Der Krieg schafft Arbeitsplätze

Elvis Costello: Shipbuilding (1983)

„Is it worth it?
A new winter coat and shoes for the wife
And a bicycle on the boy’s birthday
It’s just a rumour that was spread around town
By the women and children
Soon we’ll be shipbuilding“

Elvis Costello: Shipbuilding
Elvis Costellos Version des Songs.
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Elvis Costello ist mit seiner Band The Attractions auf Tournee in Australien, als ihn die Anfrage erreicht, einen Text zu schreiben. Die Melodie gibt es schon, Robert Wyatt wird die melancholische Ballade singen. Die Nachrichten kennen gerade kaum ein anderes Thema als die Eskalation des Streits zwischen Argentinien und Großbritannien über die kleine Inselgruppe im Südwestatlantik, die von den Briten „The Falklands“ genannt wird und von den Argentiniern „Las Malvinas“.

Als am 2. Mai 1982 ein britisches Atom-U-Boot den argentinischen Kreuzer General Belgrano versenkt, steht auf der Titelseite der Londoner Boulevardzeitung ‚The Sun‘ die Schlagzeile „Gotcha!“ – „Erwischt!“ Bei dem Angriff verloren 323 Menschen ihr Leben. Costello ist entsetzt, über das Ereignis ebenso wie über die Form der Berichterstattung.

Noch während der Tournee schreibt Costello eine Geschichte aus seiner Heimat, ohne die Premierministerin Margaret Thatcher oder auch nur den Falkland-Krieg wörtlich zu erwähnen. Costello stammt aus Birkenhead, einer Industriestadt, die direkt gegenüber von Liverpool am Mersey River liegt und ebenfalls vom Schiffsbau lebt. Doch in den letzten Jahren ging es kontinuierlich abwärts, Werften haben geschlossen, Familien ihren Lebensunterhalt verloren. „1982 hatten die meisten Geschäfte die Stadt verlassen. Du konntest die gesamte Laird Street langlaufen und bist kaum einer Seele begegnet,“ schriebt Costello.

In seinem Songtext stellt er sich vor, wie plötzlich das Gerücht die Runde macht, bald würden die Werftarbeiter wieder Schiffe bauen. Auf den gleichen Schiffen ziehen die Söhne der Arbeiter schließlich in den Krieg – und hoffen, vor Weihnachten zurück zu sein. Schon die allererste Zeile des Songs stellt die entscheidende Frage: Ist es das wert?

Robert Wyatts Version des Songs.
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„Shipbuilding“ wird ein Erfolg für Robert Wyatt, und Costello findet den Song so gelungen, dass er ihn selbst noch einmal aufnimmt.

Mit seiner Band bucht er einen Raum in den AIR-Studios in London, nebenan arbeiten Paul McCartney, Quincy Jones und Michael Jackson an gemeinsamen Songs, zwei Zimmer weiter wechseln sich Duran Duran und Alice Cooper ab. Für seine eigene Version von „Shipbuilding“ wünscht sich Costello ein Trompetensolo. Costello spricht in einem Londoner Jazzclub den legendären Trompeter Chet Baker an, der gerade für magere Gagen durch Europa tingelt. Costello zahlt ihm das Doppelte des in den USA üblichen Tariflohns und bereut später, dass der Produzent Baker einen etwas kitschigen Hall auf die Trompete gelegt hat.

Die Studioaufnahme von Elvis Costello mit Chet Baker an der Trompete.
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Und der Krieg? Ein paar Tage nachdem Costello den Text im Juni 1982 fertig hat, schweigen die Waffen. Als „Shipbuilding“ 1983 erscheint, ist der Falklandkrieg schon vorbei, nach zweieinhalb Monaten. In der kurzen Zeit erlebten die Werften keinen Aufschwung, die jungen Männer waren noch auf den alten Schiffen in den Krieg gefahren. Thatchers innenpolitisches Kalkül geht indessen auf, die Unterhauswahlen 1983 werden der größte Erfolg der konservativen Partei unter ihrer Führung.

In seiner Autobiographie schreibt Costello, er sei Protestsongs gegenüber immer skeptisch gewesen. Eine Welt ohne „Ohio“ und „Free Nelson Mandela“ mag er sich trotzdem nicht vorstellen. Er fragt sich: „Kann ein Song verändern, was die Menschen denken? Ich bezweifle das, aber ein Song kann dein Herz infiltrieren, und das Herz kann verändern, was du denkst.“ Mit „Shipbuilding“ habe er erreichen wollen, dass die Zuhörer sich weniger einsam fühlen.

Ein paar Jahre später, 1989, schreibt Costello einen expliziteren Song, in dem er sich vorstellt, dass er lange genug lebt, um eines Tages die Erde auf dem Grab einer nur bei ihrem Vornamen Margaret genannten Politikerin fest zu trampeln: „Tramp the Dirt Down“.

Martin Kaluza, August 2022

Lynchmorde in der Südstaatenidylle

Billy Holiday: Strange Fruit (1939)

„Southern trees bear a strange fruit
Blood on the leaves and blood on the root
Black body swinging in the southern breeze
Strange fruit hanging from the poplar trees

Abel Meeropol: Strange Fruit
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Wenn im „Café Society“, dem ersten Jazzclub, in denen schwarze und weiße Gäste Zutritt haben, das Ende des Auftritts von Billy Holiday naht, hören die Kellner auf, die Tische zu bedienen. Das Licht wird ausgeschaltet, bis auf einen einzelnen Spot auf die Sängerin. Der Song, den sie dann singt, beschört eine ländliche Südstaatenidylle, in der die grausamsten Verbrechen stattfinden: „Southern trees bear a strange fruit / Blood on the leaves and blood at the root / Black bodies swinging in the southern breeze / Strange fruit hanging from the poplar trees.“ Sie braucht das Wort „Lynchmorde“ nicht einmal zu erwähnen. Holiday besingt im Jahr 1939 ein Tabuthema: Fast 4.000 wurden in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts gelyncht. 90 Prozent dieser Morde fanden in den Südstaaten statt, vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner.

Geschrieben hat den Song ein Weißer, der jüdische Lehrer Abel Meeropol, auch bekannt unter dem Pseudonym Lewis Allan und Mitglied der kommunistischen Partei. 1936 stieß er auf ein Foto, dass die Lynchmorde an den schwarzen Teenagern Thomas Shipp und Abram Smith zeigte. Verstört von dem Foto schrieb er das Gedicht „Bitter Fruit“ und veröffentlichte es im Magazin der New Yorker Lehrergewerkschaft. Später komponierte er auch die Melodie und den bot den Song über den Nachtclubbesitzer Billy Holiday an. Die Sängerin hätte ihn gern bei Columbia Records aufgenommen, doch die Firma lehnt den Song ab – zu heikel. 1939 nimmt sie ihn schließlich beim Label Commodore auf, zusammen mit drei weiteren Songs, und der Produzent sagt später über die Aufnahmen, er glaube, das sei die erste wirklich moderne Blues-Session gewesen. Die Band, mit der sie den Song einspielt, ist ihre Band aus dem „Café Society“. Von dessen Bühne aus erobert der düstere Song die Welt.

Abel Meeropol steht in der McCarthy-Ära noch einmal in der Öffentlichkeit: Mit seiner Frau Anne adoptiert er 1953 die Kinder des als angebliche Sowjet-Spione hingerichteten Ehepaars Ethel und Julius Rosenberg.

Martin Kaluza, August 2022

„Wie die Message in den Song kam“ – live!

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Jo Ambros und ich haben schon lange ausgebrütet, wie wir einen gemeinsamen Bühnenabend über Protest- und Revolutionslieder auf die Bühne bringen könnten. Wir freuen uns total, dass wir auf dem Festival des neuen politischen Liedes am Theater Ost die Gelegenheit unsere musikalische Lesung präsentieren können: „Wie die Message in den Song kam“.

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Musikalische Lesung

Was ist von der Ära der großen Protestsongs geblieben? Haben heutige politische Bewegungen ihre eigenen Songs? Kann man sich 2022 ein neues „Blowin’ in the Wind“ vorstellen? Martin Kaluza und Jo Ambros haben unabhängig voneinander und auf ihre Weise Antworten gesucht. Kaluza begann, in seinem Blog „Das politische Lied“ die Geschichten hinter engagierten Songs zu sammeln – und hört seitdem überall politische Anliegen heraus. Ambros nahm zwei Alben mit Protestsongs auf, ließ den Gesang weg und zeigte so nebenbei, dass die wirklich großen Protestsongs nicht nur einen guten Text haben, sondern auch unschlagbare Melodien. Am heutigen Nachmittag liest Kaluza Texte aus seinem Blog, und Ambros spielt Gitarre.

Sonntag, 28.8.2022, 17:45
„Und weil der Mensch ein Mensch ist“ – Festival des neuen politischen Liedes

THEATER OST
Moriz-Seeler-Straße 1
12489 Berlin

Martin Kaluza ist Autor und Musiker. Er hat in politischer Philosophie promoviert und liebt Songs, in denen viel „I love you“ und „Yeah yeah yeah!“ vorkommt. Für seinen Blog daspolitischelied.de hört er sich rund um den Globus nach Songs mit Anliegen um.

Jo Ambros ist Gitarrist. Er veröffentlichte zuletzt zwei Alben mit Instrumentalversionen von Revolutionsliedern und Protestsongs. Er spielte unter anderem mit Helen Schneider, Freundeskreis und Cat Stevens.

Der Entertainer wird ernst

Sam Cooke: A Change is Gonna Come (1963)

„I was born by the river
In a little tent
Oh, and just like the river, I’ve been runnin‘
Ever since
It’s been a long
A long time comin‘, but I know
A change gon‘ come
Oh, yes it will“

Sam Cooke: A Change is Gonna Come
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1963 ist Sam Cooke einer der erfolgreichsten Sänger seiner Generation. Seine Hits „Cupid“, „Only Sixteen“ oder „What a Wonderful World“, vorgetragen mit butterweicher Stimme, erreichen Millionen Fans, schwarze wie weiße. Doch noch immer haben schwarze Amerikaner nicht die gleichen Rechte wie weiße. Nicht einmal ein Star wie Sam Cooke darf in allen Hotels übernachten und in allen Restaurants essen.

Während einer Tournee hört er Bob Dylans Song „Blowin‘ in the Wind“ zum ersten Mal. Ein Schlüsselerlebnis: Cooke nimmt den Song, in dem der weiße, junge Folksänger aus Minnesota gegen Diskriminierung singt, in sein Repertoir auf und spielt ihn regelmäßig. Und er traut sich nun selbst, einen politischen Song zu schreiben: darüber, wie schwierig, wie schmerzhaft und wie gefährlich es ist, als Schwarzer in den USA zu leben. Im Refrain singt Cooke von Hoffnung – und der traurige, kurz vor der Resignation stehende Ton lässt die Zuhörer ahnen, wie sehr sich Cooke zu seinem Optimismus aufraffen muss: „Es geht schon lange so, aber die Zeiten werden sich ändern.“

Die Melodie für „A Change is Gonna Come“ sei ihm im Traum zugefallen, sagt Cooke einmal, Ende 1963, nur ein paar Monate nach Martin Luther Kings „I Have a Dream“-Rede. Ins Konzert-Repertoir nimmt Cooke seinen eigenen Song nicht auf, er scheint ihm zu finster für fröhliche Club-Auftritte. Nur einmal spielt er ihn vor Publikum, nämlich am 7. Februar 1964 in der Johnny Carson Show. Zwei Tage später treten die Beatles erstmals in der Ed Sullivan-Show auf – die Sensation überstrahlt Cookes Auftritt.

Als Single erscheint der Song im Dezember, wenige Tage nach Sam Cookes Tod, er wurde in einem Motel von der Geschäftsführerin erschossen. Er erlebt nicht mehr, welche Bedeutung sein Song für die Bürgerrechtsbewegung erlangt. Otis Redding nimmt eine Fassung auf, ebenso Aretha Franklin. Als 2008 mit Barack Obama erstmals ein schwarzer Präsident der USA vereidigt wird, trägt die Soulsängerin Bettye LaVette „A Change is Gonna Come“ im Duett mit Jon Bon Jovi vor.

Martin Kaluza, August 2022

Vom Holzfällersong zum Friedenslied

Pete Seeger: Where Have all the Flowers Gone? (1955)

„Where have all the soldiers gone, long times passing?
Where have all the soldiers gone, long time ago?
Where have all the soldiers gone?
Gone to graveyards, everyone
Oh, when will they ever learn?
Oh, when will they ever learn?“

Pete Seeger: Where Have all the Flowers Gone?
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Um 1950 herum stolpert der US-amerikanische Folksänger Pete Seeger in Michail Scholochows Roman „Der stille Don“ über ein ukrainisches Volkslied. Die Handlung des Romans spielt in der Zeit der Oktoberrevolution. In einer Passage reiten Donkosaken fort, um sich der Armee des Zaren anzuschließen. Sie singen: „Wo sind die Blumen? Mädchen haben sie gepflückt. Wo sind die Mädchen? Sie alle haben geheiratet. Wo sind die Männer? Sie sind alle in der Armee. Galopp, Galopp, Galopp!“

Seeger schreibt die Zeilen in sein Notizbuch. Fünf Jahre später trifft ihn beim Dösen im Flugzeug die Inspiration: Die Worte „long time passing“ würden sich doch gut singen lassen – im Deutschen werden sie als „Wo sind sie geblieben?“ übersetzt. Aus den alten Notizen und der neuen Eingebung macht er einfach einen neuen Song, ergänzt um die pädagogische Zeile: „When will they ever learn?“

Seeger veröffentlicht das Stück 1955 im Magazin „Sing out!“ „Ich dachte, ich hätte die Melodie selbst geschrieben,“ erinnert er sich einmal. „Bis mir ein Jahr später ein Freund schrieb und mich darauf aufmerksam machte, dass sie sehr der Melodie eines Holzfällersongs aus Adirondacks ähnelte, den ich einmal aufgenommen hatte.“ Ein irisches Lied: „Johnson says he’ll unload more hay / Says he’ll unload ten times a day“.

1960 schließlich schreibt Seegers Freund und Folksänger Joe Hickerson noch zwei weitere Strophen, und erst mit ihnen schließt sich der Kreis des Textes: „Sag, wo die Soldaten sind / Über Gräbern weht der Wind“ und „Sag mir, wo die Gräber sind / Blumen wehen im Sommerwind“.

„Where Have All the Flowers Gone“ erscheint mitten im kalten Krieg, auf dem ersten Höhepunkt des atomaren Wettrüstens. Radio und Fernsehen tragen wenig zu seiner Verbreitung bei. Noch bis weit in die 1970er Jahre wird Pete Seeger vom US-Rundfunk boykottiert. Die Ausnahme bleibt ein Fernsehauftritt 1967 in der Comedy-Show der Smothers-Brüder (einer von ihnen ist später auf der Originalaufnahme von „Give Peace a Chance“ zu hören). Seeger nutzt die Gelegenheit, einen Song gegen den Vietnam-Krieg vorzutragen – was ihm nur weitere Jahre der TV-Verbannung einbringt. Der Erfolg des Blumen-Liedes ist trotzdem nicht aufzuhalten.

Joan Baez nimmt eine Version auf. Die von Peter, Paul & Mary wird ebenfalls zum Hit. „Das Kingston-Trio sang das [Lied] auch, und Marlene Dietrich übernahm es von denen“, sagte Seeger in einem Interview mit dem Neuen Deutschland. „Max Colpet machte eine deutschsprachige Version, die sich besser singen lässt als meine englische. Es klingt im Deutschen wirklich noch beeindruckender: ‚Sag mir wo die Blumen sind.’“

Martin Kaluza, Juli 2022

Der militärisch-industrielle Komplex

Bob Dylan: Masters of War (1963)

„You fasten the triggers
For the others to fire
Then you sit back and watch
When the death count gets higher
You hide in your mansion
As the young people’s blood
Flows out of their bodies
And is buried in mud“

Bob Dylan: Masters of War
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Am 17. Januar 1961 hält Dwight D. Eisenhower nach zwei Amtszeiten seine Abschiedsrede als Präsident der USA. Seine Präsidentschaft war geprägt vom Kalten Krieg und massiver Aufrüstung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Das Wettrüsten nahm zu Beginn seiner Präsidentschaft Fahrt auf: USA und UdSSR bauten Atombomben, die zunächst nur von Langstreckenbombern aus abgeworfen werden konnten. 1957 bauten die Sowjets die erste Interkontinentalrakete der Welt. 1958 drohten sie, West-Berlin der DDR einzuverleiben – eine Spannung, die die Supermächte zunächst lösen konnten, durch eine Vereinbarung über den Kurs der „friedlichen Koexistenz“.

In seiner Abschiedsrede warnt Eisenhower nun zum Erstaunen vieler Zuhörer vor dem, was er den „militärisch-industriellen Komplex“ nennt: Obwohl er selbst Generalstabschef der Armee gewesen war, sieht in den Verflechtungen von Rüstungsindustrie und Politik eine Gefahr für die demokratischen Institutionen. Er fürchtet, dass ein massiv aufgerüstetes Land Konflikte vorschnell militärisch auszutragen bereits ist statt diplomatische Lösungen zu suchen.

Eisenhower sagt: „Nur wachsame und informierte Bürger können die angemessene Verknüpfung der gigantischen industriellen und militärischen Verteidigungsmaschinerie mit unseren friedlichen Methoden und Zielen erzwingen, so dass Sicherheit und Freiheit zusammen wachsen und gedeihen können.“

Eine Woche nach Eisenhowers Rede zieht Robert Zimmermann, ein Junge aus dem kargen Norden der USA, nach New York und mischt mit seiner Gitarre die Musikkneipen und Bars der Folk-Szene auf. Unter seinem Künstlernamen Bob Dylan spielt der 21-Jährige die Songs seines Vorbilds Woody Guthrie. Bald schreibt er eigene Lieder, politisch und engagiert. „The Ballad of Donald White“ oder „The Death of Emmett Till“ sind, ganz der Folk-Tradition folgend, um das Schicksal einer bestimmten Person herum gestrickt.

Doch Dylan will sich weiter entwickeln und schreibt neue Songs. Er wagt den Blick auf das Große Ganze: „Blowin‘ in the Wind“, das sein größter Hit werden wird, ist ein Schrei nach Freiheit und nach Frieden, und damals so ungewöhnlich, dass er auch von der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung angenommen wird.

Dylan verfasst, inspiriert von Eisenhowers Rede, einen noch expliziteren Antikriegssong, die Melodie entlehnt er dem Folksong „Nottamun Town“: In „Masters of War“ klagt Dylan gegen Kriege, die von den jungen Menschen nicht gewollt werden; er wettert gegen die Schreibtischtäter, die ungerührt zuschauen, während andere sterben; er ätzt gegen den Zynismus der Kriegsgewinnler, für die Menschenleben nichts zählen. In der letzten Strophe wünscht er ihnen den Tod und malt sich aus, er würde ihrem Sarg folgen und auf dem Grab stehen, um sicher zu gehen, dass sie tot sind.

Solche boshaften Gedanken sind eigentlich nicht Dylans Stil. Man kann sie als Rollenprosa lesen und als erschütterte Feststellung, was die Hilflosigkeit angesichts des Krieg aus friedlichen Menschen macht – sie wünschen den Kriegsherren den Tod. Man könnte auch sagen: Die letzte Strophe malt aus, wie das Gift, vor dem Eisenhower gewarnt hatte, seine Wirkung auch im Privaten entfaltet.

Kurze Zeit später wird Dylans Song zunächst zum Soundtrack der Kuba-Krise und zum Protestlied gegen den Vietnamkrieg. Der schwelt zwar bereits seit 1955, doch zum Trauma für die US-amerikanische Gesellschaft wird er erst 1965, als die USA sich aktiver als bisher am Krieg beteiligen und Nordvietnam bombardieren. Der militärisch-industrielle Komplex hat einen fatalen Weg eingeschlagen, der zehn Jahre später mit einem verlorenen Krieg enden wird.

Martin Kaluza, Juni 2022

Gesang der Gesänge

Mikis Theodorakis und Maria Farantouri: Die Mauthausen-Kantate (1965)

„Die ich liebe ist schön, so unsagbar schön
Ich seh sie vor mir in ihrem Sommerkleid
Mit einem Kamm im dunklen Haar
Man hat sie fortgebracht, und keiner sieht, wie schön sie ist
Man hat sie fortgebracht, und keiner sieht, wie schön sie ist
Man hat sie fortgebracht, und keiner weiß, wohin“

Mikis Theodorakis und Maria Farantouri: Asma Asmathon
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Am 6. April 1941 überfällt die Wehrmacht Griechenland. Die grausame Besatzung dauert bereits zwei Jahre an, als der junge Grieche Iakovos Kambanellis bei dem Versuch, in die Schweiz zu fliehen, in Österreich verhaftet wird. Er wird ins Konzentrationslager Mauthausen bei Linz gebracht und bleibt dort bis zum Tag der Befreiung am 5. Mai 1945.

Kambanellis bleibt sogar noch länger auf dem Gelände als er müsste. Er und andere wollen diejenigen Juden nicht allein zurücklassen, die auf ihre Ausreise nach Palästina warten. In dieser Zeit verliebt er sich in Jannina, eine jüdische Litauerin.

Zurück in Griechenland wird er oft gebeten, von seiner Gefangenschaft im Vernichtungslager zu berichten. Doch es dauert fast zwanzig Jahre, bis er Texte über seine Erlebnisse veröffentlicht. Er hat das Gefühl, in den vielen Zeitungsberichten über KZs und in den Nürnberger Prozessen sei schon alles gesagt. Was soll er da noch beitragen?

Kambanellis findet schließlich einen eigenen Zugang: Er schreibt einen Roman über die Gefangenschaft und die Zeit unmittelbar nach der Befreiung. In „Die Freiheit kam im Mai“ benennt er die Grausamkeiten, und er beschreibt auch Momente der Wärme – etwa die Sonntage, an denen sich die getrennt untergebrachten männlichen und weiblichen Gefangenen über den Zaun hinweg anschauten, ohne etwas sagen zu dürfen, und all ihre Liebe und ihr Verlangen in Blicken ausdrückten.

Neben dem Roman verfasst Kambanellis einen Zyklus aus vier Gedichten über Mauthausen. Im ersten, Asma Asmathon, besingt der Protagonist die Schönheit der Frau, in die er verliebt ist und die er verzweifelt sucht. Kambanellis entlehnt die Zeile „Und keiner hat gewusst, dass sie so schön ist“ dem Hohelied Salomons. Sein Protagonist fragt: „Ihr Mädchen von Dachau, ihr Mädchen von Auschwitz, habt ihr meine Geliebte gesehen?“ Sie antworten: „Wir sahen sie auf einem großen Platz / Sie trug eine Nummer auf dem Arm / Und einen Stern auf dem Herzen.“

1965 vertont der Komponist Mikis Theodorakis die Gedichte. Er ist international bekannt, seit er für den Spielfilm Alexis Sorbas den Sirtaki erfunden hat. Die Mauthausen-Gedichte sind ihm eine Herzensangelegenheit, als Widerstandskämpfer erlebte er während der Besatzung im Zweiten Weltkrieg selbst Gefangenschaft und Folter. Nach dem Krieg kämpfte er als Partisan im Griechischen Bürgerkrieg und wurde auf der berüchtigten Gefängnisinsel Makronissos interniert. Und es war nicht seine letzte Gefangenschaft: 1967, nach der Machtübernahme des Militärs, wird Theodorakis in Griechenland verhaftet – während die Mauthausen-Kantate in London aufgeführt wird. Seine Musik wird von der Junta verboten. Erst 1970 darf er, nach einer Welle der internationalen Solidarität, nach Paris ausreisen. 1974, nach dem Ende der Diktatur, kehrt er zurück, als Volksheld.

Die Aufnahme der Mauthausen-Kantate mit der jungen Maria Farantouri wird weltbekannt. Der Komponist und die Sängerin führen sie in hunderten von Konzerten auf. Eines der bewegendsten: 1988 dirigiert Theodorakis die Kantate auf dem Gelände der Gedenkstätte Mauthausen auf Griechisch, Deutsch und Hebräisch.

Mikis Theodorakis führt die Mauthausen-Kantate 1988 auf dem Gelände der Gedenkstätte auf.
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Martin Kaluza, April 2022

Der Teufelskreis der Mauer

Anaϊs Mitchell: Why We Build the Wall (2006)

„Why do we build the wall
My children, my children
Why do we build the wall?

Why do we build the wall?
We build the wall to keep us free
That’s why we build the wall
We build the wall to keep us free“

Anaϊs Mitchell: Why We Build the Wall
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Im Herbst 2016 feiert ein ungewöhnliches Musical seine Premiere in New York. Anaϊs Mitchell, eine freundlich-verhuschte Folk-Sängerin aus Vermont, hat den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike für die Gegenwart adaptiert: Die Welt ist von Umweltzerstörung und Dürren geplagt. Eurydike liebt den idealistischen Orpheus, der arm ist wie sie, weil das Land so wenig hergibt.

Hades, der König der Unterwelt, verspricht ihr das Paradies, wenn sie ihm folgt, und sie erliegt der Versuchung und verlässt Orpheus. Dort angekommen erfährt Eurydike, worin ihr Schicksal besteht: Sie ist als billige Arbeitskraft eingeplant. Von dem angeblichen Wohlstand bekommt sie nicht viel ab.

Zum ersten Mal führte Mitchell ihre Folk-Oper „Hadestown“ 2006 im Stadttheater von Barre auf, einer Kleinstadt mit 9000 Einwohnern zwischen Boston und Montreal. Da war sie frisch mit dem Studium fertig. 2010 veröffentlichte Mitchell ein Konzeptalbum mit den Songs, auf dem prominente Freunde wie Justin Vernon von der Band Bon Iver und Ani di Franco mitsingen. Mit der Dramaturgin Rachel Chavkin schreibt sie schließlich die neue Bühnenfassung, die 2016 am „Off-Broadway“ aufgeführt wird.

Den Zuschauern der Premiere bleibt vor allem bei einem Song der Atem stehen: “Why We Build the Wall”. Wie in einem Gospel schwört Hades seine Untergebenen auf den Bau einer Mauer ein. Geradezu hypnotisch singen sie sich im Frage-und-Antwort-Stil in einen Teufelskreis: Warum bauen wir die Mauer? Wir bauen die Mauer, um den Feind fernzuhalten. Der Feind ist Armut. Die Armen wollen Arbeit. Wir haben Arbeit, solange wir an der Mauer bauen. Die Mauer wird niemals fertig werden.

„Ich musste meine Jacke etwas enger ziehen, um die Gänsehaut loszuwerden“, schreibt Charles Isherwood, Musical-Kritiker der New York Times, über den Song. „Ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht zu erklären, warum.“

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Der Song wirkt wie ein direkter Kommentar zu Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf, der gerade die USA aufwühlt: Trump will eine „wunderschöne Mauer“ entlang der mexikanischen Grenze bauen, die illegale Einwanderung verhindern und Arbeitsplätze schaffen soll. Es ist als hätte Mitchell das geahnt. Ihr Song ist da bereits zehn Jahre alt.

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Als der britische Protestsänger Billy Bragg den Song ebenfalls 2016 in Chicago spielt, erinnert er das Publikum daran, dass zur gleichen Zeit die französische Polizei den “Calais Dschungel” räumt, eine von Geflüchteten errichtete Zeltsiedlung am Eingang des Eurotunnels. Und die EU, zu der das Vereinigte Königreich damals noch gehört, gewährt der Türkei Milliardenhilfen dafür, dass sie Geflüchtete etwa aus Syrien davon abhält, in die EU einzureisen.

Mit der Off-Broadway-Premiere ist die Geschichte noch nicht zu Ende. 2019 wird „Hadestown“ am großen Broadway gespielt und gewinnt den Tony Award für das beste Musical und die beste Musik.

Martin Kaluza, Februar 2022

Die Grenzen ausloten

Danger Dan: Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt (2021)

„Juristisch wär die Grauzone erreicht
Doch vor Gericht machte ich es mir wieder leicht
Zeig mich an und ich öffne einen Sekt
Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“

Danger Dan: Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt
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Der Journalist und Aktionskünstler Jean Peters, Mitglied der subversiven Aktionskunstgruppe Peng Kollektiv, hat Gleichgesinnte zum Salon eingeladen: Freunde, Kunstschaffende, Medienleute. Bei Käse und Wein fragen sie sich, warum eigentlich linke Künstlerinnen und Künstler nicht konsequenter den legalen Spielraum ausloten, um ihre Anliegen zu vertreten.

Peters, ein Mann mit vielen Pseudonymen, liebt öffentlichkeitswirksame Protestaktionen. 2016 bewarf er, als Clown verkleidet, die AfD-Politikerin Beatrix von Storch mit einer Torte. Gerade erst hat er ein Buch über subversiven Widerstand geschrieben: „Wenn die Hoffnung stirbt, geht’s trotzdem weiter“.

Unter den Gästen seines subversiven Salons ist Daniel Pongratz, mit dem Peters mal eine WG hatte. Pongratz rappt unter dem Namen Danger Dan im Hiphop-Trio Antilopen Gang. Am nächsten Morgen schreibt er einen Songtext, der, wie im Salon besprochen, Grenzen auslotet: „Also jetzt mal ganz spekulativ / Angenommen, ich schriebe mal ein Lied / In dessen Inhalt ich besänge, dass ich höchstpersönlich fände / Jürgen Elsässer sei Antisemit“.

Elsässer, das muss man wissen, hatte 2014 Jutta Dittfurth verklagt, weil sie ihn einen „glühenden Antisemiten“ genannt hatte. Pongratz reizt noch weitere Figuren der rechten und neurechten Szene, den Publizisten Götz Kubitschek, Alexander Gauland. Verschwörungsfanatiker Ken Jebsen bekommt eine eigene Strophe, denn der hatte 2015 Danger Dans Band wegen eines Songs verklagt – und verloren. Jede Strophe endet mit einem vorweggenommenen Triumph: „Klag mich an und ich öffne einen Sekt / Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt.“

Im Interview mit dem Spiegel erzählt Pongratz, dass er den Text drei befreundeten Juristen gegeben habe.

Danger Dan trägt den Text nicht als Rap-Song vor, sondern er macht daraus eine Klavierballade, ganz in der Tradition der großen Spötter wie Georg Kreisler, Tom Lehrer oder Franz Josef Degenhardt. Im Video dazu sitzt er vor einem leeren Theatersaal in Bomberjacke am Flügel.

In der dritten Strophe wechselt der Song in den Indikativ: „Jürgen Elsässer ist Antisemit, Kubitschek hat Glück, dass ich nicht Bogen schieß“, „Gauland wirkt auch eher wie ein Nationalsozialist“. Und dann direkt weiter: „Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein, man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt.“

In einem furiosen Schlussteil rät Danger Dan, Staat und Polizeiapparat nicht zu trauen, schließlich habe der Verfassungsschutz den NSU mit aufgebaut und die Polizei den Asylbewerber Oury Jalloh gefesselt und angezündet. Er stellt den Staat auf die Probe: Wenn schon Polizei und Verfassungsschutz beim Schutz vor rechter Gewalt versagen, dann werden doch die Gerichte standhaft bleiben? „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt.“

Schon zuvor im Video hantierte Danger Dan mit einem Maschinengewehr und Patronen. Nun singt er: „Und wenn du friedlich gegen die Gewalt nicht ankommen kannst / Ist das letzte Mittel, das uns allen bleibt, Militanz.“ Mit der Kalaschnikow in der Hand gesungen klingt das wie eine Drohung, doch der Text bewegt sich geradezu aufreizend nah am Grundgesetz: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Am Ende des Videos wird Danger Dan mit Tomaten, Eiern und Torten beworfen – eine kleine Referenz an seinen tortenwerfenden Mitbewohner. Mit ernster Miene hält der Sänger stand, verbeugt sich vor leerem Saal und tritt von der Bühne ab. Ende des Stücks.

Martin Kaluza, Februar 2022

Mietendrama

Genesis: Get ´Em Out By Friday (1972)

„I think I’ve fixed a new deal
A dozen properties – we’ll by at five and sell at thirty four
Some are still inhabited
It’s time to send the winkler to see them
He’ll have to work some more“

Genesis: Get ´Em Out By Friday
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Den entscheidenden Tipp bekommt Peter Rachman von seiner Lieblingsprostituierten. Nirgends könne sie ein Zimmer mieten, weder für ihre Geschäfte noch zum Wohnen. Rachman, der als polnischer jüdischer Einwanderer nach dem zweiten Weltkrieg noch einen Lebensunterhalt sucht, mietet fortan Wohnungen, um sie an Leute weiterzuvermieten, die sonst auf dem Wohnungsmarkt keine Chance haben. Es ist der Beginn einer steilen Karriere im Immobilienbusiness.

Rachmans Mieten sind überteuert, doch seine Kundschaft ist dankbar. Denn ob Prostituierte oder Einwanderer aus der Karibik – Rachman tritt ihnen ohne Vorbehalte gegenüber.

Rachman operiert in Paddington, North Kensington und Notting Hill. Er beginnt, über Hypotheken finanziert, heruntergekommene Mietshäuser zu kaufen. Da die Mieten für unmöblierte Wohnungen gedeckelt sind, will er die alten Mieter loswerden. Einige bewegt er mit Abfindungen zum Auszug. Andere werfen das Handtuch, weil Rachman die Häuser verfallen lässt und die freien Wohnungen mit viel zu vielen Menschen vollstopft, bevorzugt mit Einwanderern von den Westindischen Inseln. Wenn sie bis spät in die Nacht laute Musik hören: Rachman ist es recht. Er kauft bei Entrümplern billigste Tische, Sessel und Schränke und vermietet die Wohnungen zu einem Vielfachen neu – denn für möblierte Wohnungen gilt der Deckel nicht.

Binnen elf Jahren baut Rachman ein Geflecht aus 33 Firmen auf, die seine Immobiliengeschäfte verschleiern, investiert in Nachtclubs, freundet sich mit Schauspielern an und fährt im Rolls Royce durch die Gegend. Er ist nicht der einzige Großvermieter, der Mieter systematisch vergrault, doch er ist der schillerndste.

1972 schreibt die Prog-Rock-Band Genesis einen Song über die Wohnungsmisere. „Get ‚em out by Friday“ handelt von der alleinerziehenden Mrs. Barrow und ihrer Tochter Mary. Im Verlauf des achteinhalbminütigen Gentrifizierungsdramoletts schlüpft Sänger Peter Gabriel abwechselnd in die Rollen des Vermieters, seines Angestellten, der Mutter.

Die Geschichte spielt in Harlow, einem Vorort nördlich von London, dort steht das erste Wohnhochhaus des Landes. Das Wohnungsunternehmen Styx Enterprises schickt seinen Entmietungsexperten, den „Winkler“. Er schüchtert Mrs. Barrow so gründlich ein, dass sie ihm anbietet, freiwillig die doppelte Miete zu zahlen. Doch der „Winkler“ will sie bis Freitag raus haben. Er lockt sie mit Geld: Für vierhundert Pfund Entschädigung ziehen Mutter und Tochter in einen neuen Wohnblock mit Zentralheizung, in dem sie sich überhaupt nicht wohl fühlen. Sie sind noch nicht eingezogen, da wird die Miete schon erhöht.

Der Schlusspart des Songs spielt in der Zukunft, im Jahr 2012. Die Miethaie haben sich mit der Gentechnik verbündet. Sie setzen durch, dass Menschen nur noch vier Fuß groß sein dürfen – etwa einen Meter zwanzig. Die Idee: So passen doppelt so viele Menschen in die gleiche Anzahl Wohnungen. Und die Eigentümer kassieren doppelt.

Peter Rachman, das reale Vorbild für den Vermieter aus dem Song, stirbt 1962 an einem Herzinfarkt als Millionär. Das Oxford Dictionary führt den Begriff „Rachmanism“ bis heute – als Synonym für die „Ausbeutung und Einschüchterung von Mietern durch skrupellose Vermieter“.

Martin Kaluza, Januar 2022