Die Spur der Züge

Steve Reich: Different Trains (1988)

„Lots of cattle wagons there
They were loaded with people
They shaved us
They tattooed a number on our arms
Flames going up to the sky – it was smoking“

Steve Reich: Different Trains
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Stephen Michael Reich ist vielleicht der bedeutendste zeitgenössische Komponist Amerikas. Eines seiner bekanntesten Werke ist tief mit seiner Biografie und seiner jüdischen Identität verwoben. Reich ist ein Scheidungskind – seine Eltern trennen sich, als er ein Jahr alt ist. Die Mutter zieht nach Los Angeles und arbeitet dort als klassische Sängerin. Der Vater, ein Anwalt, bleibt in New York.

Weil sich beide um den Jungen kümmern wollen, reist er oft mit dem Zug zwischen den Städten hin und her, begleitet von seiner Gouvernante. Für Stephen, 1936 geboren, sind die viertägigen Fahrten ein Abenteuer. Fast 50 Jahre später erinnert sich Reich an die Reisen: „Gott weiß, warum mir die Zugreisen meiner Kindheit im Kopf herumschwirrten. Ich erinnerte mich an den typischen Sound, den amerikanische Züge hatten. Ich dachte an all die musikalischen Stücke, die mit Zügen zu tun hatten, an ‚Night Train‘, ‚Soultrain‘, ‚Chattanooga Choo Choo‘. In unserer Musik gibt es eine Kultur von Zügen.“

Die Erinnerung an die Züge seiner Kindheit beunruhigt Reich: „Diese Fahrten waren damals aufregend und romantisch. Doch heute schaue ich zurück und mache mir bewusst, dass ich als Jude in andere Züge hätte steigen müssen, wenn ich zu dieser Zeit in Europa gewesen wäre.“ Einmal sagt er: „Es gibt ein Foto aus dem Warschauer Getto von einem kleinen Jungen, sechs oder sieben Jahre alt. Er hat eine Mütze auf und kurze Hosen an. Er sieht genauso aus wie ich in dem Alter.“

Mit einem Tonbandgerät besucht er sein über 70 Jahre altes Kindermädchen Virginia. Er lässt sich von ihren gemeinsamen Zugfahrten erzählen. Als Nächstes nimmt er ein Gespräch mit Lawrence Davis auf, einem über 80-jährigen pensionierten Schaffner, der auf der Strecke New York–Los Angeles arbeitete. Schließlich besorgt sich Reich Sprachaufnahmen dreier Holocaust-Überlebender, die nun in den USA leben: Rachella, Paul und Rachel. Aus ihren Erzählungen hört er die Sprachmelodie einzelner Sätze heraus und notiert sie als Noten. Er arrangiert daraus kurze, rhythmisch wiederkehrende Tonfolgen als Musik für ein Streichquartett. Bei Konzerten spielt ein Tonband die Stimmen ab, dazu das Pfeifen von Zügen, kreischende Bremsen, Sirenen.

Sein Stück „Different Trains“ hat drei Sätze: „Amerika – vor dem Krieg“ steht für Reichs Reisen zwischen den Elternteilen. In „Europa – während des Krieges“ kommen die Holocaust-Überlebenden zu Wort. Im dritten Satz, „Nach dem Krieg“, ist Pauls Stimme zu hören: „Und der Krieg war vorbei.“ Rachella fragt: „Bist du sicher?“

Reich, der Philosophie und an der New Yorker Juilliard School Komposition studiert hat, ist bekannt für die Montage sich wiederholender kleiner Melodiesegmente. Er hat die Stilrichtung der Minimal Music geprägt.

In den letzten Jahren hat er die bislang rein instrumentale Musik um Sprache ergänzt. Seine Stücke werden in Konzertsälen und Museen aufgeführt. „Ich liefere keine Interpretation des Holocaust“, sagt er. „Ich präsentiere Menschen, die über ihr eigenes Leben sprechen. Die Musik folgt dem, wie sie sprechen. Wenn ‚Different trains‘ funktioniert – und danach sieht es aus –, dann liegt es daran, dass die dokumentarische Realität und die musikalische Realität eins sind.“

Martin Kaluza, Februar 2021

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