Eine Zukunft für den Jungen mit dem Lumpenball

Victor Jara: „Luchín“ (1972)

„Wenn es doch Kinder gibt wie Luchín
Die sich Erde und Würmer in den Mund stecken
Dann lasst uns alle Käfige öffnen
Damit sie fliegen wie Vögel“

Victor Jara: „Luchín“
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Ein Unwetter im Winter 1970 lässt den Río Mapocho in Santiago de Chile anschwellen. Das Wasser überschwemmt die „poblaciónes callampas“, Armensiedlungen, die am Stadtrand wie Pilze aus dem Boden schießen. An der Kunstfakultät der Universidad de Chile tun sich Freiwillige zusammen, um in der Siedlung Barrancas bei den Aufräumarbeiten zu helfen.

Einer Tanzstudentin fällt in den schlammigen Straßen ein kleiner Junge auf, kaum ein Jahr alt. Es ist das zehnte Kind eines Ehepaars, das in dieser Armut lebt, und braucht dringend medizinische Hilfe. Die Professorin der Studentin, Joan Jara, und ihr Mann Victor nehmen sich des Jungen an, bringen ihn ins Krankenhaus und adoptieren ihn schließlich.

Victor Jara, ursprünglich Theaterautor und Regisseur, ist einer der bekanntesten Liedermacher in Chile. Über die Armut, in die sein Adoptivsohn Luis, den er zärtlich „Luchín“ nennt, geboren wurde, schreibt er eine sanft wiegende Folk-Ballade im Vierachtelteltakt: „Zerbrechlich wie ein Drachen auf den Dächern von Barrancas spielte der Junge Luchín mit seinen violetten Händen mit dem Ball aus Lumpen, mit Katze und Hund, das Pferd sah ihm dabei zu.“

Das Lied soll Teil eines Konzeptalbums werden. „La población“ (die Siedlung) beschreibt das prekäre Leben der Ärmsten. In die Songs baut Jara Tonaufnahmen ein, die er vor Ort gesammelt hat – kurze Straßenszenen, Zitate von Bewohnern und Geräusche. Er nimmt damit eine Technik vorweg, die im Hiphop Jahre später als „Street Skit“ populär wird. Den Jungen Luchín lässt er ein Gedicht aufsagen.

Als Jara mit dem Lied im peruanischen Fernsehen auftritt, erzählt er von einem „kleinen Banditen“, den er ins Herz geschlossen hat: „Vielleicht wird er in 15 oder 20 Jahren einmal eine Fabrik leiten!“ Im Song drückt er es poetisch aus: Wenn es Kinder wie Luchín gibt, die wie ein Vogel Dreck und Würmer schlucken, dann sollen sie auch fliegen dürfen wie die Vögel – also lasst uns alle Käfige öffnen!

Das mit der Fabrik ist ein Traum dieser Zeit. Chile wird seit den Wahlen 1970 vom sozialistischen Präsidenten Salvador Allende regiert. Für die Wahlkampagne hat Victor Jara den Song „¡Venceremos!“ geschrieben. Er tritt vor Arbeitern in Bergwerken und in den Armensiedlungen auf.

Am 11. September 1973 putscht das Militär in Chile, General Augusto Pinochet übernimmt die Macht, und am nächsten Tag wird Victor Jara im Hof der Technischen Universität verhaftet. In einer Veranstaltungshalle pferchen die Militärs ihn mit Tausenden anderen Inhaftierten zusammen, foltern ihn vier Tage lang, verstümmeln seine Hände und ermorden ihn mit 44 Schüssen. Victors Frau Joan geht mit ihren Töchtern ins Exil. Der fünfjährige Luis bleibt in Chile, wird noch einmal adoptiert, von einer befreundeten Familie, und nimmt den Nachnamen Iribarren an.

Ein Fabrikdirektor ist aus Luis Iribarren nicht geworden, er ist heute Anwalt. „In Chile ist es schwierig, Gerechtigkeit zu bekommen“, sagt er in einer Talkshow über 20 Jahre nach Ende der Diktatur. Es war ein US-Gericht, das den ersten der damaligen Militärs verurteilt hat, die für den Tod Victor Jaras verantwortlich waren. Inzwischen hat Chiles Justiz nachgezogen: Ende August 2023, nach fast 50 Jahren, hat der oberste Gerichtshof des Landes die Haftstrafen gegen acht damalige Offiziere bestätigt.

In der Halle, in der der Liedermacher ermordet wurde, finden bis heute Konzerte und Sportveranstaltungen statt. Sie trägt seit 2004 den Namen „Estadio Victor Jara“.

Martin Kaluza, März 2024

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