Ozan Ata Canani: Deutsche Freunde (1978)
„Und die Kinder dieser Menschen
Ozan Ata Canani: Deutsche Freunde
Sind geteilt in zwei Welten
Ich bin Ata und frage euch
Wo wir jetzt hingehören“
Anfang der 1960er Jahre brummt die Nachkriegswirtschaft der Industriestaaten Westeuropas, und ganz besonders die der Bundesrepublik. Das einzige, was den Aufschwung aufzuhalten droht, ist der Mangel an Arbeitskräften. Die Türkei leidet in der gleichen Zeit unter massenhafter Arbeitslosigkeit und Armut. 1961 schließen die beiden Staaten ein Abkommen über die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer. Bis zum offiziellen Anwerbestopp zwölf Jahre später zieht es 867.000 Arbeitnehmer aus der Türkei nach Westdeutschland.

Ozan Ata Canani, 1963 in Maras geboren, ist Kind eines türkischen Arbeiters und kommt mit 12 Jahren nach Deutschland. Nach dem Anwerbestopp ist es für Türken und andere EU-Ausländer kaum noch möglich, saisonweise in Deutschland zu arbeiten. Viele der Arbeiter lassen sich deshalb fest in der Bundesrepublik nieder und holen ihre Familie nach.
Canani widmet sich neben der Schule der Musik. Er spielt Saz, eine Laute mit langem, schmalen Hals, die auch „Baglama“ genannt wird. Bald schreibt er seine ersten Songs – oft auf Türkisch, aber genauso gerne auf Deutsch. Damit gilt er als der Erfinder des türkischen Songs in deutscher Sprache.
Der junge Musiker singt über das, was er kennt: die Lebensbedingungen von Einwanderern in Deutschland. Ein Satz des Schweizer Schriftstellers Max Frisch hat es ihm besonders angetan: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ Er stammt aus einer Rede, die Frisch schon 1965 gehalten hatte, in der Schweiz war es damals um italienische Gastarbeiter gegangen.
Canani ist gerade einmal 15 Jahre alt, als er um das Frisch-Zitat herum den Song „Deutsche Freunde“ strickt. Er zählt die Länder auf, aus denen die Menschen gekommen sind, „aus Türkei, aus Italien, aus Portugal, Spanien, Griechenland, Jugoslawien“. Sie kommen „Als Schweißer, als Hilfsarbeiter/Als Drecks- und Müllarbeiter/Stahlbau- und Bahnarbeiter/Sie nennen uns Gastarbeiter/Unsere deutsche Freunde“. Jede Strophe endet ironisch mit der Zeile: „Freunde, Freunde, sie haben haben am Leben Freude.“

Und vierzig Jahre vor Mesut Özils Rücktritt aus der Deutschen Fußballnationalmannschaft und der anschließenden #metwo-Debatte stellt Canani die Frage nach der Identität der zugewanderten Kinder. Er richtet sie direkt an die deutschen Freunde: „Und die Kinder dieser Menschen/Sind geteilt in zwei Welten/Ich bin Ata und frage euch/Wo wir jetzt hingehören“. Die Richtung der Frage ist wichtig: Fragen Deutschstämmige die Gastarbeiterkinder, wo sie hingehören, schwingt darin – wie im Fall Özil – die Forderung nach einem klaren Bekenntnis mit. Doch Canani fragt sinngemäß zurück: Welchen Platz seid ihr denn bereit, uns einzuräumen?
Canani macht sich in der deutsch-türkischen Musikszene einen Namen. Er schließt sich der Band „Die Kanaken“ an, 1979 gewinnt er den Liedermacherwettbewerb der Stadt Duisburg „Kleiner Mann – was tun?“ Für den WDR nimmt eine handvoll Songs auf und tritt sogar in Alfred Bioleks Fernsehsendung „Bio’s Bahnhof“ auf. Doch allmählich gerät „Deutsche Freunde“ in Vergessenheit.
Der Berliner Autor Imran Ayata und der Münchner Künstler Bülent Kullukcu kramen den Song nach Jahrzehnten hervor, als sie ein ganzes Album mit Liedern von Musikern aus der ersten Generation von Einwanderern in Deutschland zusammenstellen. Da es keine gute Aufnahme von „Deutsche Freunde“ gibt, bitten sie Canani 2013, den Titel noch einmal neu einzuspielen. Er erscheint auf dem Sampler „Songs of Gastarbeiter Vol. 1“. Der Song erinnert daran, dass man schon 1978 das hätte tun können, was die #metwo-Debatte im Jahr 2018 einforderte: einfach mal zuhören.
Ozan Ata Canani hat unterdessen seinen Platz gefunden. Er lebt in Leverkusen und arbeitet in der Elektrobranche. Seit sein Song über die deutschen Freunde neu veröffentlicht wurde, tritt er wieder regelmäßig auf.
(Text: Martin Kaluza, Oktober 2018)