Die Rapperin der Geflüchteten

M.I.A.: Borders (2015)

„Borders – what’s up with that?
Your privilege – what’s up with that?
Boat people – what’s up with that?
The new world – what’s up with that?“

M.I.A.: Borders

Ein starkes Bild folgt auf das nächste: In langen Schlangen ziehen Menschen durch die Wüste. An einem hohen Drahtzaun klettern sie empor und formen das Wort LIVE. Hunderte stehen in sandfarbenen Kaftanen dicht zusammen, so arrangiert, dass sie das Bild eines Dampfers abgeben. In ihrer Mitte sticht eine Frau heraus: Die Rapperin Mathangi Arulpragasam. Bekannter ist die aus Sri Lanka stammende Londonerin unter dem Künstlernamen M.I.A. Sie hat die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 mit starken, ästhetisierenden Bildern in ein Popmusikvideo übersetzt. „Grenzen“, singt sie. „Was ist damit eigentlich?“

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Als das Video erscheint, geht ein tragisches und politisch bewegtes Jahr zu Ende. 1,3 Millionen Menschen flüchteten 2015 aus Syrien und Afghanistan, aus dem Irak und aus afrikanischen Staaten nach Europa. 4.000 Menschen ertranken im Mittelmeer. Das politische Klima hat sich aufgeheizt, ein Riss geht durch die EU, entlang der Frage, welches Land wie viele Geflüchtete aufnimmt.

Ich bin selbst Flüchtling“, sagt M.I.A. in einem Interview mit dem Fernsehsender Al Jazeera. „Als Teil des multikulturellen Britannien bin ich so etwas wie ein Vorzeigekind geworden. Ich kann mich nicht hinstellen und ihnen sagen: ‚Bleibt weg!‘ Ich will dazu beitragen, dass Multikulturalismus und Integration funktionieren und nicht als Problem gesehen werden.“

Geboren ist die Tochter tamilischer Eltern in London. Dort hatte ihr Vater Arul Pragasam in den siebziger Jahren und nach Schulungen bei der PLO die „Eelam Revolutionary Organization of Students“ (EROS) gegründet. Die Rebellengruppe tritt für einen unabhängigen tamilischen Staat im Norden Sri Lankas ein. Die meist hinduistischen Tamilen stellen ein Achtel der Inselbevölkerung, während die überwiegend buddhistischen Singhalesen drei Viertel ausmachen.

1983 bricht ein Bürgerkrieg aus, Regierungstruppen wie Rebellen gehen mit äußerster Brutalität vor. Auf Seiten der Tamilen gilt das besonders für die Tamil Tigers, sie rekrutieren Kindersoldaten und versetzen die Insel mit Selbstmordattentaten in Angst und Schrecken. Während sich auch EROS-Mitglieder den Tamil Tigers anschließen, sucht Mathangis Vater als Vermittler zwischen Regierung und Rebellen die Deeskalation – erfolglos. Mutter und Tochter bringen sich in Sicherheit, zunächst in Indien, später gehen sie zurück nach London – als Flüchtlinge.

M.I.A. rappt aus der Perspektive von Migranten und Nicht-Weißen in westlichen Ländern, sie singt für Frauen, die um ihre Rechte kämpfen, und sie scheut die Provokation nicht. Ihre Musik ist global, sie wird für Grammys und einen Oscar nominiert, ihre Songs sind im Kinoerfolg „Slumdog Millionaire“ zu hören. 2012 singt M.I.A. mit Madonna in der Halbzeitshow des Super Bowl. Dafür, dass sie ihren Mittelfinger Richtung Kamera streckt, verklagt die Football-Liga NFL den Fernsehsender auf Schadenersatz in Millionenhöhe.

M.I.A. nutzt ihre Bekanntheit. „Ich bin die einzige Tamilin, die in den westlichen Medien vorkommt, und ich habe die Möglichkeit zu berichten, was in Sri Lanka passiert“, sagt sie Anfang 2009 im US-Fernsehen. „Dort findet gerade ein Völkermord statt!“ In Sri Lanka bringt ihr das vor allem bei Angehörigen der singhalesischen Mehrheit Kritik ein. In den Kommentarspalten ihrer Online-Videos hinterlassen regierungstreue Trolle Hassbotschaften. Selbst die deutsche Band MIA bekommt irrtümlicherweise von der blinden Wut etwas ab.

Santhush Weeraman, Sänger der bekanntesten Popgruppe Sri Lankas, wirft M.I.A. vor: „Ich habe großen Respekt für ihre Kreativität, aber es gibt keinen Völkermord in Sri Lanka. Sie nutzt ihren Ruhm aus und denkt sich Geschichten über Sri Lanka aus. Das sind alles Lügen und Humbug.“

Das allerdings lässt sich leicht widerlegen. 2008 hatte Präsident Mahinda Rajapakse einen Vernichtungsfeldzug gegen die Tamil Tigers begonnen, der einem UN-Bericht zufolge 40.000 Zivilisten das Leben kostete. Ebenso wahr ist, dass auch die Tamil Tigers Kriegsverbrechen begangen haben. Im Mai 2009 sind die Rebellen besiegt, der Bürgerkrieg beendet. Nach Versöhnung sieht es lange nicht aus. Erst als Rajapakse 2015 in den Wahlen unterliegt und die Macht an Maithripala Sirisena abgibt, entspannt sich die politische Lage im Land – die Anschläge vom April 2019 zeigen, wie brüchig der Frieden noch immer ist.

Der Text von „Borders“ richtet sich an die Social Media-Generation. M.I.A. ruft eine Reihe Schlagworte auf: „Grenzen“ und „Dein Privileg“, auch Slang wie „being bae“ oder das im Kampf um gleichgeschlechtliche Ehe beliebte Motto „love wins“. Wie ein Mantra schließt sie an jedes die offen und so gar nicht belehrend gestellte Frage an: „What’s up with that?“ – Was ist denn nun damit?

M.I.A. spricht im Interview auf Al Jazeera über „Borders“:

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(Text: Martin Kaluza, Dezember 2018)

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