Die geplatzte DDR-Tournee

Bap: „Deshalv spill mer he“ (1984)

„Un nocht jet, falls es nit schon ohnehin bekannt,
Dat ahn die Clique, die sich ‚Volksvertreter‘ nennt:
Uns kritt ihr vüür kein offizielle Kaar jespannt,
He, wo jet andres unger unsre Näjel brennt.“

Bap: „Deshalv spill mer he“
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1983 ist Bap die Band der Stunde. Wolfgang Niedecken singt durchweg in einem kölschen Dialekt, der außerhalb des Rheinlandes kaum verstanden und trotzdem innig geliebt wird. Die Alben „für usszeschnigge“ und „vun drinne noh drusse“ belegen über Wochen Platz 1 der deutschen Charts und werden mit jeweils doppelt Platin ausgezeichnet – den LPs sind Textblätter mit Verständnishilfen beigelegt. Auf der Tournee 1982/83 spielt die Band 126 Konzerte. Am 10. Juni tritt Bap auf der Demo gegen den Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan auf, es ist die größte Friedensdemo der Bundesrepublik.

Bap hat auch in der DDR viele Fans. Die staatliche Plattenfirma Amiga hat das letzte Album „vun drinne noh drusse“ in Lizenz veröffentlicht, 15.000 Exemplare waren binnen Stunden vergriffen. Die Band plant mit der Künstleragentur der DDR für die zweite Januarhälfte 1984 eine Tournee mit 14 Auftritten in 13 Städten. Den Auftakt soll ein Auftritt beim Festival „Rock für den Frieden“ im Palast der Republik bilden. Für das Konzert werden 5.000 Karten ausgegeben – 4.300 „auf Anrecht“, also an ausgewählte FDJler und Parteimitglieder, und 700 gehen in den freien Verkauf. Die Schlange, berichtet ein Fan, war anderthalb Kilometer lang.

Wenige Wochen vor Tourbeginn wird Bap zu einem Auftritt in der Jugendsendung „rund“ nach Magdeburg eingeladen. Der Bundestag hat gerade dem NATO-Doppelbeschluss zugestimmt: Die USA und ihre Verbündete wollen neue atomare Mittelstrecken in Westeuropa aufstellen, um die Sowjetunion zu Abrüstungsverhandlungen zu zwingen.

Im Interview mit der DDR-Jugendsendung bemerkt Niedecken, wie der Moderator ihn immer wieder in eine Richtung locken möchte: „Wir machten Interviewproben. Man wollte wohl von unbedingt von mir hören, dass SS20 Friedensraketen sind und Pershings Kriegsraketen. Das war fast Loriot-verdächtig.“ Am Ende spielt die Band drei Songs zum Playback, das Interview wird nicht gesendet.

Zurück in Köln schreibt die Band einen Song. Es geht um den Rüstungswahn auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Niedecken erträumt sich, dass SS20-Raketen zu einem Traktor umgeschmiedet werden und Pershings zu einer Lok. Der Refrain schließlich ist eine Breitseite gegen Zensur und DDR-Regime: „Hey du da und du – wann ist es hier so weit, dass man das Maul aufmachen darf, wenn man etwas sagen will? Es wird höchste Zeit!“

Der Song „Deshalv spill mer he“ hat seine Premiere am Tag vor Beginn der DDR-Tour in der Stadthalle Wolfsburg. Im Publikum: neben den westdeutschen Fans auch zwei Vertreter der DDR-Jugendorganisation FDJ.

Noch im Bus auf der Transitstrecke sagt Percussionist Manfred Boecker einem Reporter, er habe „ein bisschen Angst, dass wir die Tour nicht durchziehen können. Wenn wir uns so verhalten wie wir das vorhaben, so wie auch hier in der Bundesrepublik, dann sehe ich da Schwierigkeiten.“ Sänger Wolfgang Niedecken redet sich Mut zu: „Wenn wir bei uns kritisch sind, dann müssen wir da genauso kritisch sein.“

Als die Band im Hotel Unter den Linden in Berlin einquartiert wird, hat sie noch immer keinen offiziellen Vertrag für die Konzerte der Tournee. Die Künstleragentur besteht darauf, den Text des neuen Songs vorab zu lesen. Während die Band Kaffee trinkt, entziffern Mitarbeiter am Nebentisch Zeile für Zeile Niedeckens Kölsch. In den Verhandlungen wird schnell klar: Die Band darf den Song nicht in der DDR spielen. Die Band sagt: „Wir spielen den oder wir fahren ab.“

Das Festival „Rock für den Frieden“ findet ohne Bap statt. „Ihr wisst, heute sollte an dieser Stelle die Gruppe Bap aus der BRD auftreten“, erklärt der Ansager des Festivals. „Die Gruppe hat es allerdings vorgezogen, gestern wieder abzureisen. Sie wollten nicht unter dem Symbol der weißen Taube unter blauem Grund auftreten.“ Stattdessen springt die auch im Westen bekannte DDR-Rockband „Puhdys“ ein.

Wolfgang Niedecken wird von einem West-Reporter noch vor der Rückreise in Ost-Berlin konfrontiert: Ob nicht von Beginn an klar gewesen sei, dass man das fragliche Stück hier nicht spielen könne. Niedecken antwortet: „Jetzt müssen wir unheimlich aufpassen, dass wir uns ein paar hundert Meter weiter nicht vor einen [anderen] Karren spannen lassen von den kalten Kriegern, die da sitzen und sagen: Siehste, ätsch, da habt ihr’s, ihr Alternativis, ihr Linken.“ Auf die Frage, wie sich das alles anfühle, entgegnet Niedecken: „Beschissen.“

Das Politbüro beschließt am 17. Januar, dass Rockgruppen aus dem Westen nicht mehr in der DDR auftreten können. In den nächsten beiden Jahren werden auch keine West-Bands mehr zum Festival Rock für den Frieden eingeladen. Eine bereits geplante Tour von Udo Lindenberg für das Jahr 1984 wird ebenfalls abgesagt.

Puhdys-Sänger Dieter Birr, der mit seiner Band auf dem Festival für Bap einsprang, fand die Reaktion der Kölner „bescheuert und unfair dem Publikum gegenüber“. Wolf Biermann, aus der DDR ausgebürgerter Liedermacher, sagte Jahre später einmal dem Spiegel: „Die Kulturbonzen der DDR haben eben vor ein paar kölschen Wahrheiten mehr Angst als vor einem Skandal, der entstand, als die Bap-Leute sich entschlossen, keine DDR-Zensur zu dulden. Und auf längere Sicht haben Wolfgang Niedecken und seine Freunde mit guter Nase den besseren Fehler gemacht.“

Durch Ostdeutschland tourt Bap schließlich doch noch, 1991, nach dem Fall der Mauer.

Niedecken sagt später einmal über die Rückreise von der geplatzten DDR-Tournee: „Wir fühlten uns deshalb beschissen, weil wir mittlerweile kapiert hatten, dass die Leute sowieso wussten, wieso wir da spielen. Das Lied wäre gar nicht nötig gewesen.“

Martin Kaluza, Mai 2023

Neues vom Universal Soldier

Buffy Sainte-Marie: The War Racket (2017)

„And war is never, ever holy. It’s just the greedy man’s dream
And you two-faced crusaders: Both sides are abscene
War’s not made by God: War’s made by men
Who misdirect our attention while you thieves do your thing

Buffy Sainte-Marie: „The War Racket“
Buffy Sainte-Marie – The War Racket
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Buffy Sainte-Marie wartet auf dem Flughafen von San Francisco auf ihren Anschlussflug. Sie ist auf dem Weg aus Mexiko zurück nach Toronto, und mitten in der Nacht beobachtet sie, wie Verletzte aus einem Flugzeug getragen werden. Sie fragt einen Arzt, der mit ihnen aus dem Flugzeug stieg, was es mit ihnen auf sich habe. Das seien, erklärt er, Soldaten, die in Vietnam verwundet wurden.

In der US-amerikanischen Öffentlichkeit wird kaum über Verwundete und Gefallene gesprochen. Die Regierung inszeniert sich noch als Macht, die eine Eskalation des Kriegs vermeidet, während sie in Wirklichkeit genau das betreibt. Die junge Sängerin ist erschüttert und schreibt einen Song. Sie fragt sich, wer die Verantwortung für den Krieg hat, und sieht sie selbstkritisch bei uns allen. Über den „Universal Soldier“, der für alle Länder und auf allen Seiten käpft, singt sie: „Er weiß, er sollte nicht töten, und er weiß, er wird immer tun – dich für mich, mein Freund, und mich für dich.“ Zum weltweiten Hit wird der Song ein Jahr nachdem Sainte-Marie ihn veröffentlicht hat, in der Interpretation des britischen Folk-Sängers Donovan.

Buffy Sainte-Marie – The Universal Soldier
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Sainte-Marie wird in einem Reservat in der kanadischen Provinz Saskatchewan geboren. Unter Umständen, die nicht bekannt sind, wird sie von ihren Eltern, die dem Volk der Cree angehören, getrennt und von einer Familie in den USA adoptiert. Sie gehört zu den ersten Stimmen, die darüber singen, wie der Staat die Kultur der indigenen Bevölkerung bekämpft, und von den Schicksalen der Kinder, die wie sie selbst ihren Familien weggenommen wurden. Mit eindringlichem Vibrato singt ihrem oft weißen Publikum ins Gewissen. Im Song „My Country ‚Tis of Thy People You’re Dying“ rechnet sie furios mit der kolonialen Geschichte der USA ab, die ihren Anfang in der Ankunft Kolumbus‘ und dem folgenden Völkermord an den ursprünglichen Bewohnern des Kontinents sieht.

Buffy Sainte-Marie – My Country Tis of Thy People You’re Dying
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Das Engagement bringt ihr auch Ärger ein, vor allem in den USA: Unter den Präsidenten Nixon und Johnson werden ihre Lieder aus dem Radio verbannt – darin teilt sie das Schicksal ihres Freundes Pete Seeger.

Als Songwriterin macht sie sich dennoch einen Namen. Sie ist mit Bob Dylan befreundet. Zu ihren Fans zählt eine noch unbekannte kanadische Liedermacherin namens Joni Mitchell, die einmal sagen wird, dass Sainte-Marie, eine der wenigen Frauen in der Musikszene, ihr Vorbild war. Janis Joplin singt Sainte-Maries Song „Codine“. Ihre Ballade „Until It’s Time For You To Go“ wird von Elvis Presley, Neil Diamond, Barbra Streisand, Cher, Nancy Sinatra, Roberta Flack und Shirley Bassey gecovert. Und für ihre Beteiligung am Filmsong „Up Where We Belong“, gesungen von Joe Cocker und Jennifer Warnes, gewinnt sie als erste indigene Person einen Oscar.

Von 1975 bis 1981 gehört Sainte-Marie sogar dem Ensemble der Sesamstraße an. Sie nutzt die Gelegenheit, der Mehrheitsgesellschaft zu zeigen, das in ihrem Land indigene Menschen leben. Und nebenbei bringt sie ein feministisches Anliegen an: Im Gespräch mit dem großen, gelben Vogel Bibo stillt sie vor laufender Kamera ihr Baby – in der US-Öffentlichkeit bis heute ein Tabu.

Ihr Einfluss reicht, zumindest in den USA und Kanada, bis heute. 2018 baut der so erfolgreiche wie umstrittene Rap-Star Kanye West einen Ausschnitt aus Sainte-Maries „Lazarus“ in seinen Song „Dead or Alive“ ein. 2019 wählt Quentin Tarantino ihre Interpretation des Joni Mitchell-Klassikers „The Circle Game“ für den Soundtrack seines Films „Once Upon A Time In Hollywood“ aus.

50 Jahre nach Beginn ihrer Karriere lebt Sainte-Marie auf Hawaii, züchtet Ziegen und beschäftigt sich als Künstlerin und Musikerin noch immer mit der Frage nach Krieg und Verantwortung. 2017 veröffentlicht sie den Song „The War Racket“, der wie die Fortsetzung des Universal Soldier wirkt. Inzwischen ist Donald Trump Präsident der USA, und seine Frisur taucht auch als Karikatur im Video auf. Doch Sainte-Marie richtet sich vor allem an die Protagonisten des Irak-Kriegs: „You Saddams and you Bushes, you Bin Ladens and snakes!“

Der Titel geht zurück auf den Essay „War Is A Racket“ („Krieg ist ein schmutziges Geschäft“), den der ehemalige Generalmajor der Marines Smedley D. Butler 1935 veröffentlichte. Butler rechnete mit den Kriegen ab, die die USA in der Karibik führten, kritisierte den Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg und warnte vor einer sich anbahnenden Auseinandersetzung mit Japan.

Die Kapitelüberschriften lesen sich wie die Gliederung des Songs: „Krieg ist ein schmutziges Geschäft.“ „Wer verdient daran?“ „Wer bezahlt die Rechnung?“ Sainte-Maries antwortet in präzisem Sprechgesang: Krieg wird nicht von den Menschen gemacht, auch nicht von Gott. Sondern von den Politikern und Profiteuren. Die Mächtigsten der Welt, sie machen gemeinsame Sache mit den Verbrechern, und die Armen bezahlen dafür. Sie beschreibt, wie sich die Muster mit trauriger Regelmäßigkeit wiederholen, alle dreißig Jahre: „When all sides are dying in the patriot game / It’s the war racket.“ Wenn alle Seiten in dem patriotischen Spiel sterben – das ist das schmutzige Geschäft des Kriegs.

Martin Kaluza, April 2023

Ein ukrainisches Volkslied geht um die Welt

Andriy Khlyvnyuk: Chervona Kalyna (2022)

„Ach, auf der Wiese steht der rote Schneeball tief geneigt.
Unsere ruhmreiche Ukraine ist betrübt.
Und wir werden diesen roten Schneeball wieder aufrichten,
Und wir werden unsere ruhmreiche Ukraine, hej-hej, aufmuntern!

Chervona Kalyna (Der rote Schneeball)
Pink Floyd – Hey Hey Rise Up feat. Andriy Khlyvnyuk of Boombox (7.4.2022)
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Als das Telefon klingelt, ist Andriy Khlyvnyuk vorsichtig. Der Anrufer gibt sich als David Gilmour aus, Gitarrist und Sänger der legendären Rockband Pink Floyd. Khlyvnyuk hat selbst eine Band, er ist Sänger bei BoomBox, einer der bekanntesten Gruppen der Ukraine. Doch seit ein paar Tagen herrscht Krieg: Russland hat das Land angegriffen, während Khlyvnyuk in den USA war. Er hat die Tournee sofort abgebrochen und sich dem Militär angeschlossen, um seine Heimat zu verteidigen.

Khlyvnyuk hat eine sehr lose Verbindung zu Gilmour. Seine Band hatte nämlich 2015 einmal in London mit dem Gitarristen zusammen gespielt, bei einem Benefiz-Konzert für das Freie Theater Belarus, dessen Mitglieder verhaftet worden waren. BoomBox stand auf der Bühne, nur Khlyvnyuks Visum war nicht rechtzeitig gekommen. Die Band spielte damals zusammen mit Gilmour den Pink Floyd-Song „Wish You Were Here“ – für ihn.

Khlyvnyuk bittet den Anrufer, sich noch einmal per Videoanruf zu melden. Er will sichergehen, dass er keinem schlechten Scherz aufsitzt. Im Telefon erscheint der echte David Gilmour.

Der Gitarrist bittet den verwundeten Sänger um Erlaubnis, ein Instagram-Video zu nutzen, das er am 27. Februar aufgenommen hatte, drei Tage nach Beginn des russischen Überfalls. Khlyvnyuk singt darin die erste Strophe des Volksliedes „Der rote Schneeball auf der Wiese“. Es stammt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und erinnert an die Ukrainische Legion, einen Freiwilligenverband Österreich-Ungarns, der vom ukrainischen Hauptrat in Galizien gegründet wurde, noch bevor sich mit der Ukrainischen Volksrepublik erstmals ein ukrainischer Staat von Russland unabhängig machte.

Andriy Khlyvnyuk – Chervona Kalyna (27.2.2022)
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Gilmour hat das Video von seiner Schwiegertochter zugeschickt bekommen, sie ist Ukrainerin. Khlyvnyuks Gesang berührt ihn: „Er steht dort auf einem Platz in Kiew vor der Kirche mit dieser wundervollen goldenen Kuppel und singt in der Stille einer Stadt, in der Verkehr und Hintergrundgeräusche wegen des Krieges verstummt sind. Ich wollte Musik zu diesem kraftvollen Moment schreiben.“

Gilmour ist nicht der erste, der diesen Gedanken hat. Kurz nach Khlyvnyuks Instagram-Post hatte der südafrikanische Produzent „The Kiffness“ den Song bereits am 4. März mit einem Beat unterlegt und weltweit bekannt gemacht.

Andriy Khlyvnyuk x The Kiffness – Ukrainian Folk Song Army Remix (4.3.2022)
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Nur wenige Tage vor dem russischen Angriff war das ukrainische Eistanz-Paar Oleksandra Nasarowa und Maksym Nikitin von den Olympischen Winterspielen aus Peking nach Charkiw zurückgekehrt – eine Stadt, die gleich zu Beginn schwer von den Kampfhandlungen betroffen war. Als das Eistanzpaar einen Monat später an der Weltmeisterschaft in Montpellier teilnahm, wählte es die von The Kiffness bearbeitete Version – etwas beschleunigt – als Musik für den Rhythmischen Tanz. Der ursprünglich eingeplante Song „Hit the Road, Jack“ erschien ihnen inzwischen als unpassend.

Oleksandra Nasarowa und Maksym Nikitim auf der Eislauf-WM in Montpellier (26.3.2022)
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David Gilmour jedenfalls analysiert den A cappella-Gesang, vergleicht ihn mit anderen Interpretationen desselben Liedes und schreibt um die Stimme herum eine Begleitung. Er strickt noch einen Instrumentalteil daran, in dem er, wie er es ausdrückt, „der Rockgitarrengott“ sein kann. Als Intro sucht er eine Aufnahme des ukrainischen Chors Veryovka heraus.

Drummer Nick Mason ist sofort einverstanden, den Song unter dem Namen der alten Band zu veröffentlichen. Eine musikalische Sensation: Es ist der erste neue Pink Floyd-Song seit 1994. Die Musiker spielen das Stück an einem Tag in der Scheune ein, in der sie schon während des Corona-Lockdowns Online-Konzerte gespielt hatten. „Wir haben diesen Namen, und wir haben unsere Plattform, und die wollten wir nutzen“, sagt Gilmour. „Wir wollen diese Friedensbotschaft verbreiten, und wir wollen die Moral der Menschen heben, die für ihre Heimat kämpfen.“

Als Gilmour den Sänger Andriy Khlyvnyuk das nächste Mal kontaktiert, liegt dieser im Krankenhaus. Er zeigt ein Stück Schrapnell vor, das sich in seine Wange gebohrt hatte und das er nun in einer Plastiktüte aufbewahrt.

Während David Gilmour die Ukrainerinnen und Ukrainer unterstützt, geht sein ehemaliger Bandkollege Roger Waters den umgekehrten Weg. Im September veröffentlicht er auf facebook einen offenen Brief an Olena Selenska, die Frau des ukrainischen Präsidenten. Er wirft ihrem Ehemann vor, er habe sich totalitären, antidemokratischen Bestrebungen angeschlossen, die den Willen der Menschen in der Ukraine missachten, die Ukraine werde von extrem nationalistischen Kräften beherrscht. Den US-Präsidenten Joe Biden bezeichnet er als Kriegstreiber, und die Verantwortung, den Krieg schnell zu beenden, liege bei Selenskyi.

Martin Kaluza, Februar 2023

Say It Loud! Folge 2: Arbeit & Geld

Ihr beautiful people!

Im vergangenen Jahr haben Jo Ambros und ich eine Bühnenshow gestartet, in der sich alles um Protestsongs, Revolutionslieder, Arbeiter- und überhaupt engagierte Songs dreht – und das in der schönsten Lese- und Auftrittslocation im ganzen Prenzlauer Berg! Jo spielt Gitarre, ich lese Texte aus meinem Blog, wir schauen Videos, quatschen, und gesungen wird möglicherweise auch. 

Am 9.2.23 nehmen wir uns in „Say It Loud!“ den Themenkonplex Arbeit & Geld vor. Wir hören Gewerkschaftslieder, nicken wissend zu Songs über harte Arbeit und schlechte Bezahlung, und wir tanzen die Inflation. Über allem steht wie immer die Frage, wie die Message in den Song kam.

Kommt alle! 
(Bringt Geld mit)

*

joambros.net
daspolitischelied.de

Donnerstag, 9.2.2023 um 20 Uhr

REH, Kopenhagener Str. 17, 10437 Berlin
Eintritt 8 Euro

Feminismus auf dem Dancefloor

Eurythmics & Aretha Franklin: „Sisters Are Doin‘ It For Themselves“ (1985)

„We got lawyers, doctors, politicians, too (…)
Sisters are doin‘ it for themselves
Standin‘ on their own two feet
And ringin‘ on their own bells

Eurythmics & Aretha Franklin: „Sisters Are Doin‘ It For Themselves“
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Schon mit dem ersten Hit der Eurythmics fällt Annie Lennox auf. Im Video zu „Sweet Dreams (Are Made of This)“ trägt die Sängerin kurze, knallorange gefärbte Haare und einen Männeranzug. Ein gefälliges Popstar-Lächeln spart sie sich. Mit dem androgynen Look wird Lennox 1983 aus dem Stand zur Ikone: Sie schafft es, alle Blicke auf sich zu ziehen, aber gleichzeitig entzieht sie sich dem männlichen Blick. Lennox selbst erklärt: „Es ging darum zu sagen: Ich bin weiblich, aber ich habe eine maskuline Seite, und diesen Teil von mir will ich nicht leugnen.“

In der Zeit ihres künstlerischen Durchbruchs interessiert sich Lennox für die Bewegung der Suffragetten, die in Großbritannien und den USA Anfang des 20. Jahrhunderts mit Protestmärschen und Hungerstreiks das Frauenwahlrecht erkämpft hatten. Und sie stellt sich selbst eine Aufgabe: „Die Herausforderung lautete, einen Popsong zu schreiben, der im Radio gespielt wird und trotzdem eine feministische Hymne ist. Eines Morgens habe ich den Text in einem Rutsch geschrieben.“

Der neue Song heißt „Sisters Are Doin‘ In For Themselves“, „Die Schwestern machen das für sich selbst“. Früher habe man gesagt, hinter jedem stehe Mann stehe eine starke Frau, schreibt Lennox. Doch die Zeiten haben sich geändert, die Frauen stehen nun für sich selbst und ihre eigenen Anliegen ein. Sie lassen die Küche hinter sich, und man muss sich nur umsehen: Die Ärztinnen, Anwältinnen und Politikerinnen sind schon da. Das Ganze verpacken die Eurythmics in einen munteren Popsong, der auf den Dancefloor.

Lennox findet von Beginn an, dass eine zweite Stimme dem Song guttun würde. Auf der Suche nach einer Duettpartnerin holen sich die Eurythmics zunächst eine Abfuhr: Tina Turner mag den Song nicht singen, der Inhalt ist ihr zu feministisch. Aretha Franklin hingegen sagt zu. Annie Lennox muss nur noch Franklins Bedenken ausräumen, ob es in dem Song etwa um weibliche Selbstbefriedigung gehe.

Aretha Franklin, eine Generation älter als Annie Lennox, hatte 1967 mit „Respect!“ einen ihrer größten Hits und gilt seitdem weltweit als Fürsprecherin der Frauen- und der Bürgerrechtsbewegung. Das Video zeigt im Wechsel die Sängerinnen auf der Bühne und eine Kollage von Filmschnipseln. Sie reichen von Frauen, die von einem Steinzeitmann mit Keule an den Haaren herumgeschleift werden, bis hin zu Frauen, die als Mechanikerin, Ärztin, Astronautin arbeiten. Einige Passagen sind dem britischen Nouvelle Vague-Film „Nur ein Hauch Glückseligkeit“ von 1962 entliehen.

Ein Detail im Video zu „Sisters“ wird von vielen weißen Fans übersehen, doch das schwarze Publikum erkennt das Signal sofort: Franklin trägt an der linken Hand einen schwarzen Handschuh – ein Erkennungszeichen der Black-Power-Bewegung, das zurückgeht auf die Siegerehrung des 200-Meter-Laufs bei den Olympischen Spielen von 1968 in Mexiko. Damals reckten der Sieger Tommie Smith und der Drittplatzierte John Carlos ihre Faust mit Handschuh in den Himmel. Dass Aretha Franklins im Video auch einen trägt, ist eine Erinnerung, dass sich der Kampf für Frauenrechte nicht vom Kampf gegen Rassismus trennen lässt.

2022, vier Jahre nach Franklins Tod, veröffentlicht das FBI Akten, aus denen hervorgeht, dass sie wegen ihrer Nähe zur Bürgerrechtsbewegung 40 Jahre lang überwacht wurde.

Martin Kaluza, Januar 2023

Friedensengel, auf den Kopf gestellt

Panzerballett: Ein bisschen Frieden (2009)

„Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne
Auf dieser Erde, auf der wir wohnen
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Freude
Ein bisschen Wärme, das wünsch ich mir“

Panzerballett: Ein bisschen Frieden
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Am 24. April 1982 ist die englische Kleinstadt Harrogate Schauplatz des größten europäischen Songwettbewerbs. Der Abend ist schon fast schon rum, nur noch der Song aus Deutschland steht aus, da betritt Nicole Hohloch, eine 17-jährige Abiturientin aus dem Saarland, die Bühne. Im biederen Pünktchenkleid sitzt sie fast schüchtern auf der Bühne, klammert sich an eine riesige, weiße Gitarre, das blonde Haar wallt über die Schultern. „Ein bisschen Frieden“ heißt ihr Song – und sieht sie nicht selbst ein bisschen aus wie ein Friedensengel?

Der Song passt in die Zeit. Drei Wochen zuvor ist der Krieg zwischen dem Gastgeberland und Argentinien um eine Inselgruppe im südwestlichen Atlantik eskaliert. Gleichzeitig liegt Angst vor dem Atomkrieg liegt in der Luft. Die Sowjetunion hatte Mitte der siebziger Jahre mit SS20-Mittelstreckenraketen aufgerüstet. Kanzler Helmut Schmidt drängte auf den „Nato-Doppelbeschluss“. Die Vereinbarung sah Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt über die Begrenzung von Mittelstreckenraketen vor. Sollten die jedoch scheitern, würde die Nato mit eigenen Raketen atomar nachrüsten.

„Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel“, singt Nicole. Sie wirkt dabei nicht wie die zeittypische Friedensaktivistin. Die 400.000 jedenfalls, die keine zwei Monate später in Bonn gegen die Nachrüstung und den Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan demonstrieren, sehen ganz anders aus. Nicht so bieder. Nicht so katholisch. Und im Gegensatz zu Bands wie Bap und dem Künstler Joseph Beuys tritt Nicole bei der großen Friedensdemo gar nicht auf. Und warum eigentlich fordert sie nur „ein bisschen“ Frieden?

Doch immerhin, das muss man an dem Abend in Harrogate ihr und Grandprix-Dauerteilnehmer Ralph Siegel lassen: Nicole und ihr Song sind eine Botschaft an die Europäischen Nachbarn. Von einem Deutschland, das einen solch harmlosen Engel ins Finale schickt, muss sich nun wirklich niemand mehr fürchten. Und es würde sicher auch keine Inseln im Südatlantik angreifen.

Das Lied gewinnt mit großem Vorsprung, es bekommt von allen Ländern Punkte – mit der Ausnahme Luxemburgs. In der Wiederholung singt Nicole es viersprachig auf Deutsch, Französisch, Englisch und Niederländisch.

Das Lied wird ein Nummer-1-Hit und sticht 1982 unter den hedonistischen Krachern an der Spitze der Charts – „Polonäse Blankenese“, „Skandal im Sperrbezirk“, „Der Kommissar“, „Ich will Spaß“ und „Adios Amor“ – deutlich hervor.

Wir spulen vor ins Jahr 2009. Auftritt Jan Zehrfeld. Der 1977 geborene Münchner hatte zunächst Cello gelernt und dann auf Jazz- und Metall-Gitarre umgeschult. Ein guter Teil des Repertoirs seiner Band Panzerballett besteht aus Coverversionen bekannter Songs, die Zehrfeld komplett gegen den Strich bürstet. Seine Technik, Songs zu bearbeiten, bezeichnet er als „Verkrassung“. In den meisten Fällen ist das einfach ein Spaß auf hohem Niveau.

Doch als er sich den Nicole-Song von 1982 vornimmt, passiert etwas Magisches: „Ein bisschen Frieden“, nun gesungen von Conny Kreitmeier, wird aller Spuren von Naivität beraubt.

Martin Kaluza, Dezember 2022

Diversität, aktualisiert

Billy Bragg: Sexuality (1991/2021)

„I’ve had relations with girls from many nations
I’ve made passes at girls from all classes
And just because you’re gay I won’t turn you away
If you stick around I’m sure that we can find some common ground

Sexuality – Strong and warm and wild and free
Sexuality – Your laws do not apply to me“

Billy Bragg: Sexuality
Popsong Jahrgang 1991: Billy Braggs „Sexuality“
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Mitte der 1980er Jahre, auf dem Höhepunkt der AIDS-Epidemie, herrscht in der britischen Öffentlichkeit eine homophobe Stimmung. Die konservative Regierung tut wenig, die Lage zu entschärfen. Im Gegenteil, 1988 tritt das Gesetz „Section 28“ in Kraft, das öffentlichen Einrichtungen die „Förderung der Homosexualität“ verbietet – an Schulen und in Behörden darf nur negativ über sie berichtet werden.

1991 nimmt sich der Protestsänger Billy Bragg sich des Themas an. Er war durch seine vom Punkrock inspirierten Auftritte bekannt geworden, hatte die Bergarbeiterstreiks der 80er Jahre mit E-Gitarre und viel Zorn in der Stimme unterstützt. Jetzt möchte er poppiger klingen, zugänglicher. Bragg findet, dass Sexualität einen fröhlichen, lustvollen Song verdient hat. Zusammen mit Johnny Marr, dem Gitarristen der legendären Indieband „The Smiths“, schreibt er „Sexuality“. Bragg singt, er habe mit Mädchen aus vielen Ländern Beziehungen gehabt und mit Frauen aller sozialen Klassen geflirtet. Beschwingt fährt er fort: „And just because you’re gay I won’t turn you away / If you stick around maybe we can find some common ground“.

Der Ton ist in der aufgeheizten Situation bewusst freundlich-leger: „Nur weil du gay bist, werde ich dich nicht wegschicken. Wenn wir etwas Zeit miteinander verbringen, finden wir bestimmt eine Menge Gemeinsamkeiten.“

Dreißig Jahre später ändert Billy Bragg genau diese Zeilen. Bei seinen Auftritten singt er im November 2021: „And just because you’re ‚they‘ I won’t turn you away, if you stick around I’m sure that we can find the right pronouns“. Frei übersetzt heißt das: „Nur weil du dich nicht auf ein Geschlecht festlegen lässt, werde ich dich nicht wegschicken. Wenn wir etwas Zeit miteinander verbringen, finden wir bestimmt die passenden Pronomen.“ In den Ansagen ruft er Unterstützung von Stonewall auf, einer der wichtigsten Initiativen, die sich für die Rechte von LGBTQ- Personen einsetzen.

Update dreißig Jahre später: 2021 spielt Billy Bragg „Sexuality“ mit aktualisiertem Text.
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In den Sozialen Medien muss Bragg zum Teil Kritik einstecken. Steht er nicht mehr an der Seite der Schwulen? Auch wird er von einer feministischen Fraktion kritisiert, die sich von Transgender-Frauen bedroht fühlt – und die ihnen zum Beispiel das Recht abspricht, Frauentoiletten zu nutzen.

Der Musiker erklärt sich ausführlich in einem Gastbeitrag in der linken Wochenzeitung „New Statesman“. Dass er den Songtext geändert habe, sei „Ausdruck meiner Allyship mit der Trans- und nicht-binären Community“. Allyship – der in neueren linken Debatten geläufige Ausdruck überschneidet sich in vielen Aspekten mit dem, was alte Linke unter Solidarität verstehen.

In den letzten 30 Jahren, schreibt Bragg, habe es viele Fortschritte gegeben. Schwule und Lesben genießen mittlerweile die gleichen Rechte und den gleichen Schutz wieder alle anderen auch – Section 28 ist Geschichte. Doch trotz all der Fortschritte gäbe es eine marginalisierte Gruppe, deren Legitimität auch in liberalen Kreisen mitunter in Frage gestellt werde: Transgender-Frauen.

„Ich lasse die Gay Community nicht verschwinden, wenn ich den Text von ‚Sexuality‘ ändere, sondern ich aktualisiere ihn angesichts der veränderten Zeiten, in denen wir leben. Ich hoffe, dass ich andere Angehörige meiner Generation ermutige, mit ihrem liebgewonnenen Verständnis von Inklusion dasselbe zu tun.“

Martin Kaluza, Oktober 2022

Aussöhnung am Konzertflügel

Barbara: Göttingen (1964)

Et lorsque sonnerait l’alarme
S’il fallait reprendre les armes
Mon cœur verserait une larme
Pour Göttingen, pour Göttingen

Barbara: Göttingen
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„Paris besingt man immer wieder / Von Göttingen gibt’s keine Lieder“, singt Monique Andrée Serf. Damit stellt sie das beklagte Manko auch schon wieder ab. Serf hat sich in die Stadt im südlichen Niedersachsen verliebt, obwohl sie sie erst gar nicht besuchen wollte. Am Ende schreibt sie ein Chanson über Göttingen, das heute in Frankreich jeder mitsingen kann.

Frühling 1940, der letzte Zug verlässt die Stadt Blois, die neunjährige Monique ist an Bord. Ihre Tante soll sie in Sicherheit bringen, die Mutter winkt am Bahnsteig. Nach hundert Kilometern hält der Zug auf freier Strecke in der Ebene von Châtillon-sur-Indre einfach an, die Lok wird abgekoppelt. Die Reisenden sind auf sich selbst gestellt, man erlaubt den Kindern, bei den umliegenden Höfen etwas zu Essen zu besorgen.

Am fünften Tag erscheinen drei Jagdflugzeuge am Himmel und beschießen die Waggons. Monique erkennt die Hakenkreuze unter den Flügeln. Es gibt Tote und Verletzte. „Ich kann mich nicht mehr dran erinnern, wie wir aus dieser Hölle herauskamen“, schreibt sie in ihren Memoiren.

Monique ist Jüdin und muss sich den ganzen Krieg über immer wieder vor den Deutschen in Sicherheit bringen, den Wohnort wechseln, mal mit, mal ohne Eltern. Aber sie hat Glück: Sie muss nicht hungern, nie den Judenstern tragen, niemand aus der Familie wird deportiert.

Zwanzig Jahre nach Abzug der Deutschen sitzt sie am Klavier in der Pariser Bar Ecluse und singt unter dem Künstlernamen Barbara ihre ersten eigenen Chansons. „Das Chanson“, sagt sie, „gehört zum Alltag eines jeden. Das ist sein Sinn, seine Stärke. Es ist sozial, satirisch, revolutionär, anarchistisch, fröhlich, nostalgisch.“

Nach einem Auftritt spricht ein Mann aus dem Publikum sie an. Er stellt sich vor als Gunther Klein, Leiter des Neuen Theaters in Göttingen und fragt, ob sie nicht dort einmal auftreten möchte. Ein Auftritt ausgerechnet in Deutschland? Barbara erbittet einen Tag Bedenkzeit.

Am 4. Juli 1964 reist sie nach Göttingen und ärgert sich, dass sie zugesagt hat. Auf der Bühne steht ein Klavier, hoch und klobig, nicht der vereinbarte Flügel. Am Tag zuvor hätten die Klaviertransporteure gestreikt, sagt Klein entschuldigend. Die Sängerin probiert Sitzpositionen aus. Sie will unbedingt ihr Publikum sehen, doch mit dem hohen Ding geht das nicht. So kann sie nicht auftreten.

Eine alte Dame rettet die Vorstellung, indem sie ihren Konzertflügel zur Verfügung stellt. Zehn Studenten, die alle gut Französisch sprechen, tragen ihn quer durch die Stadt. Das Konzert beginnt mit über zwei Stunden Verspätung, das Publikum jubelt nach jedem Lied. Barbara ist gerührt, verlängert ihr Gastspiel um eine Woche und schreibt am letzten Abend im Garten des Theaters die ersten Zeilen eines Chansons über Göttingen.

Sie schreibt über blonde Kinder und die Rosen, für die die Stadt bekannt ist, über Melancholie und Märchen – sie hat das Wohnhaus der von ihr verehrten Gebrüder Grimm besucht. Kühn und symbolträchtig reimt Barbara „France“ auf „Hans“. Später nimmt sie auch eine deutsche Fassung des Liedes auf: „Was ich nun sage, das klingt freilich / Für manche Leute unverzeihlich / Die Kinder sind genau die gleichen / In Paris, wie in Göttingen“.

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Das Lied, das fast genau ein Jahr nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags entstanden ist, wird zu einer Ikone der deutsch-französischen Aussöhnung. Barbara singt es bei jedem ihrer Konzerte: „Lasst diese Zeit nie wiederkehren / Und nie mehr Hass die Welt zerstören / Es wohnen Menschen, die ich liebe / In Göttingen, in Göttingen.“

Martin Kaluza, Oktober 2022

Ein Lied aus dem spanischen Bürgerkrieg reist nach Südamerika

Rolando Alarcón: El Quinto Regimiento (1968)

„El dieciocho de julio
En el patio de un convento
El pueblo madrileño
Fundó el quinto regimiento“

Trad.: El Quinto Regimiento
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Am 17. Juli 1936 putscht das Militär gegen die Zweite Spanische Republik, der Bürgerkrieg beginnt. Am Tag darauf gründet die kommunistische Partei einen paramilitärischen Verband, 150.000 Mann stark, um Madrid zu verteidigen. Seine Gründung und sein Führungspersonal werden umgehend in einem Song verewigt: „El Quinto Regimiento“ – „Das fünfte Regiment.“

Die Melodie ist zusammengesetzt aus zwei Volksliedern. Die Strophen stammen aus „El Vito“, der Refrain aus „Anda, jaleo“. Auf einer der bekanntesten Aufnahmen von „Anda, jaleo“ ist übrigens der Dichter Federico García Lorca zu hören, 1931 begleitete er die Sängerin La Argentinita am Klavier.

Im September 1939, ein halbes Jahr nach Ende des Bürgerkriegs, legt der französische Frachter „Winnipeg“ mit 2200 spanischen Flüchtlingen an Bord in der chilenischen Hafenstadt Valparaiso an. Der Dichter und Konsul Pablo Neruda hatte die Fahrt des französischen Frachters in Paris organisiert.

Als der chilenische Liedermacher Rolando Alarcón dreißig Jahre später ein ganzes Album über den Spanischen Bürgerkrieg aufnimmt – darunter auch „El Quinto Regimiento“ – sind die Passagiere der „Winnipeg“ und die Lieder, die sie mitbrachten, längst in Südamerika heimisch geworden.

Martin Kaluza, Oktober 2022

Die großen Fragen

Bob Dylan: Blowin‘ in the Wind (1963)

„How many times can a mountain exist
Before it’s washed to the sea?
Yes, ’n‘ how many years can some people exist
Before they’re allowed to be free?“

Bob Dylan: Blowin‘ in the Wind
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Robert Zimmermann, ein Junge aus dem kargen Norden der USA, geht mit 21 Jahren nach New York und mischt in den Bars und Musikkneipen die Folk-Szene auf. Unter seinem Künstlernamen Bob Dylan spielt er die Songs seines Vorbilds Woody Guthrie. Bald schreibt er eigene Lieder, politisch und engagiert. „The Ballad of Donald White“ oder „The Death of Emmett Till“ sind, ganz der Folk-Tradition folgend, um das Schicksal einer bestimmten Person herum gestrickt.

An einem Abend schreibt er in der Musikkneipe praktisch in einem Rutsch einen neuen Text zur Melodie eines traditionellen Gospels („No More Auction Block“), aber diesmal geht es nicht um eine einzelne Person oder Begebenheit, sondern er zoomt zurück und betrachtet das große Ganze. Und er stellt große Fragen:

Wie oft müssen die Kanonenkugeln noch fliegen, bevor sie für immer abgeschafft sind? Wie lange halten Menschen es aus zu existieren, ohne frei zu sein? Wie oft kann ein Mensch einfach wegsehen? „Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind.“ Die Friedensbewegung singt den Song genauso wie die Bürgerrechtsbewegung. „Blowin‘ in the Wind“ wird zu einem der bekanntesten Protestsongs aller Zeiten.

Martin Kaluza, September 2022