Aussöhnung am Konzertflügel

Barbara: Göttingen (1964)

Et lorsque sonnerait l’alarme
S’il fallait reprendre les armes
Mon cœur verserait une larme
Pour Göttingen, pour Göttingen

Barbara: Göttingen
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„Paris besingt man immer wieder / Von Göttingen gibt’s keine Lieder“, singt Monique Andrée Serf. Damit stellt sie das beklagte Manko auch schon wieder ab. Serf hat sich in die Stadt im südlichen Niedersachsen verliebt, obwohl sie sie erst gar nicht besuchen wollte. Am Ende schreibt sie ein Chanson über Göttingen, das heute in Frankreich jeder mitsingen kann.

Frühling 1940, der letzte Zug verlässt die Stadt Blois, die neunjährige Monique ist an Bord. Ihre Tante soll sie in Sicherheit bringen, die Mutter winkt am Bahnsteig. Nach hundert Kilometern hält der Zug auf freier Strecke in der Ebene von Châtillon-sur-Indre einfach an, die Lok wird abgekoppelt. Die Reisenden sind auf sich selbst gestellt, man erlaubt den Kindern, bei den umliegenden Höfen etwas zu Essen zu besorgen.

Am fünften Tag erscheinen drei Jagdflugzeuge am Himmel und beschießen die Waggons. Monique erkennt die Hakenkreuze unter den Flügeln. Es gibt Tote und Verletzte. „Ich kann mich nicht mehr dran erinnern, wie wir aus dieser Hölle herauskamen“, schreibt sie in ihren Memoiren.

Monique ist Jüdin und muss sich den ganzen Krieg über immer wieder vor den Deutschen in Sicherheit bringen, den Wohnort wechseln, mal mit, mal ohne Eltern. Aber sie hat Glück: Sie muss nicht hungern, nie den Judenstern tragen, niemand aus der Familie wird deportiert.

Zwanzig Jahre nach Abzug der Deutschen sitzt sie am Klavier in der Pariser Bar Ecluse und singt unter dem Künstlernamen Barbara ihre ersten eigenen Chansons. „Das Chanson“, sagt sie, „gehört zum Alltag eines jeden. Das ist sein Sinn, seine Stärke. Es ist sozial, satirisch, revolutionär, anarchistisch, fröhlich, nostalgisch.“

Nach einem Auftritt spricht ein Mann aus dem Publikum sie an. Er stellt sich vor als Gunther Klein, Leiter des Neuen Theaters in Göttingen und fragt, ob sie nicht dort einmal auftreten möchte. Ein Auftritt ausgerechnet in Deutschland? Barbara erbittet einen Tag Bedenkzeit.

Am 4. Juli 1964 reist sie nach Göttingen und ärgert sich, dass sie zugesagt hat. Auf der Bühne steht ein Klavier, hoch und klobig, nicht der vereinbarte Flügel. Am Tag zuvor hätten die Klaviertransporteure gestreikt, sagt Klein entschuldigend. Die Sängerin probiert Sitzpositionen aus. Sie will unbedingt ihr Publikum sehen, doch mit dem hohen Ding geht das nicht. So kann sie nicht auftreten.

Eine alte Dame rettet die Vorstellung, indem sie ihren Konzertflügel zur Verfügung stellt. Zehn Studenten, die alle gut Französisch sprechen, tragen ihn quer durch die Stadt. Das Konzert beginnt mit über zwei Stunden Verspätung, das Publikum jubelt nach jedem Lied. Barbara ist gerührt, verlängert ihr Gastspiel um eine Woche und schreibt am letzten Abend im Garten des Theaters die ersten Zeilen eines Chansons über Göttingen.

Sie schreibt über blonde Kinder und die Rosen, für die die Stadt bekannt ist, über Melancholie und Märchen – sie hat das Wohnhaus der von ihr verehrten Gebrüder Grimm besucht. Kühn und symbolträchtig reimt Barbara „France“ auf „Hans“. Später nimmt sie auch eine deutsche Fassung des Liedes auf: „Was ich nun sage, das klingt freilich / Für manche Leute unverzeihlich / Die Kinder sind genau die gleichen / In Paris, wie in Göttingen“.

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Das Lied, das fast genau ein Jahr nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags entstanden ist, wird zu einer Ikone der deutsch-französischen Aussöhnung. Barbara singt es bei jedem ihrer Konzerte: „Lasst diese Zeit nie wiederkehren / Und nie mehr Hass die Welt zerstören / Es wohnen Menschen, die ich liebe / In Göttingen, in Göttingen.“

Martin Kaluza, Oktober 2022

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