Die geplatzte DDR-Tournee

Bap: „Deshalv spill mer he“ (1984)

„Un nocht jet, falls es nit schon ohnehin bekannt,
Dat ahn die Clique, die sich ‚Volksvertreter‘ nennt:
Uns kritt ihr vüür kein offizielle Kaar jespannt,
He, wo jet andres unger unsre Näjel brennt.“

Bap: „Deshalv spill mer he“
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

1983 ist Bap die Band der Stunde. Wolfgang Niedecken singt durchweg in einem kölschen Dialekt, der außerhalb des Rheinlandes kaum verstanden und trotzdem innig geliebt wird. Die Alben „für usszeschnigge“ und „vun drinne noh drusse“ belegen über Wochen Platz 1 der deutschen Charts und werden mit jeweils doppelt Platin ausgezeichnet – den LPs sind Textblätter mit Verständnishilfen beigelegt. Auf der Tournee 1982/83 spielt die Band 126 Konzerte. Am 10. Juni tritt Bap auf der Demo gegen den Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan auf, es ist die größte Friedensdemo der Bundesrepublik.

Bap hat auch in der DDR viele Fans. Die staatliche Plattenfirma Amiga hat das letzte Album „vun drinne noh drusse“ in Lizenz veröffentlicht, 15.000 Exemplare waren binnen Stunden vergriffen. Die Band plant mit der Künstleragentur der DDR für die zweite Januarhälfte 1984 eine Tournee mit 14 Auftritten in 13 Städten. Den Auftakt soll ein Auftritt beim Festival „Rock für den Frieden“ im Palast der Republik bilden. Für das Konzert werden 5.000 Karten ausgegeben – 4.300 „auf Anrecht“, also an ausgewählte FDJler und Parteimitglieder, und 700 gehen in den freien Verkauf. Die Schlange, berichtet ein Fan, war anderthalb Kilometer lang.

Wenige Wochen vor Tourbeginn wird Bap zu einem Auftritt in der Jugendsendung „rund“ nach Magdeburg eingeladen. Der Bundestag hat gerade dem NATO-Doppelbeschluss zugestimmt: Die USA und ihre Verbündete wollen neue atomare Mittelstrecken in Westeuropa aufstellen, um die Sowjetunion zu Abrüstungsverhandlungen zu zwingen.

Im Interview mit der DDR-Jugendsendung bemerkt Niedecken, wie der Moderator ihn immer wieder in eine Richtung locken möchte: „Wir machten Interviewproben. Man wollte wohl von unbedingt von mir hören, dass SS20 Friedensraketen sind und Pershings Kriegsraketen. Das war fast Loriot-verdächtig.“ Am Ende spielt die Band drei Songs zum Playback, das Interview wird nicht gesendet.

Zurück in Köln schreibt die Band einen Song. Es geht um den Rüstungswahn auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Niedecken erträumt sich, dass SS20-Raketen zu einem Traktor umgeschmiedet werden und Pershings zu einer Lok. Der Refrain schließlich ist eine Breitseite gegen Zensur und DDR-Regime: „Hey du da und du – wann ist es hier so weit, dass man das Maul aufmachen darf, wenn man etwas sagen will? Es wird höchste Zeit!“

Der Song „Deshalv spill mer he“ hat seine Premiere am Tag vor Beginn der DDR-Tour in der Stadthalle Wolfsburg. Im Publikum: neben den westdeutschen Fans auch zwei Vertreter der DDR-Jugendorganisation FDJ.

Noch im Bus auf der Transitstrecke sagt Percussionist Manfred Boecker einem Reporter, er habe „ein bisschen Angst, dass wir die Tour nicht durchziehen können. Wenn wir uns so verhalten wie wir das vorhaben, so wie auch hier in der Bundesrepublik, dann sehe ich da Schwierigkeiten.“ Sänger Wolfgang Niedecken redet sich Mut zu: „Wenn wir bei uns kritisch sind, dann müssen wir da genauso kritisch sein.“

Als die Band im Hotel Unter den Linden in Berlin einquartiert wird, hat sie noch immer keinen offiziellen Vertrag für die Konzerte der Tournee. Die Künstleragentur besteht darauf, den Text des neuen Songs vorab zu lesen. Während die Band Kaffee trinkt, entziffern Mitarbeiter am Nebentisch Zeile für Zeile Niedeckens Kölsch. In den Verhandlungen wird schnell klar: Die Band darf den Song nicht in der DDR spielen. Die Band sagt: „Wir spielen den oder wir fahren ab.“

Das Festival „Rock für den Frieden“ findet ohne Bap statt. „Ihr wisst, heute sollte an dieser Stelle die Gruppe Bap aus der BRD auftreten“, erklärt der Ansager des Festivals. „Die Gruppe hat es allerdings vorgezogen, gestern wieder abzureisen. Sie wollten nicht unter dem Symbol der weißen Taube unter blauem Grund auftreten.“ Stattdessen springt die auch im Westen bekannte DDR-Rockband „Puhdys“ ein.

Wolfgang Niedecken wird von einem West-Reporter noch vor der Rückreise in Ost-Berlin konfrontiert: Ob nicht von Beginn an klar gewesen sei, dass man das fragliche Stück hier nicht spielen könne. Niedecken antwortet: „Jetzt müssen wir unheimlich aufpassen, dass wir uns ein paar hundert Meter weiter nicht vor einen [anderen] Karren spannen lassen von den kalten Kriegern, die da sitzen und sagen: Siehste, ätsch, da habt ihr’s, ihr Alternativis, ihr Linken.“ Auf die Frage, wie sich das alles anfühle, entgegnet Niedecken: „Beschissen.“

Das Politbüro beschließt am 17. Januar, dass Rockgruppen aus dem Westen nicht mehr in der DDR auftreten können. In den nächsten beiden Jahren werden auch keine West-Bands mehr zum Festival Rock für den Frieden eingeladen. Eine bereits geplante Tour von Udo Lindenberg für das Jahr 1984 wird ebenfalls abgesagt.

Puhdys-Sänger Dieter Birr, der mit seiner Band auf dem Festival für Bap einsprang, fand die Reaktion der Kölner „bescheuert und unfair dem Publikum gegenüber“. Wolf Biermann, aus der DDR ausgebürgerter Liedermacher, sagte Jahre später einmal dem Spiegel: „Die Kulturbonzen der DDR haben eben vor ein paar kölschen Wahrheiten mehr Angst als vor einem Skandal, der entstand, als die Bap-Leute sich entschlossen, keine DDR-Zensur zu dulden. Und auf längere Sicht haben Wolfgang Niedecken und seine Freunde mit guter Nase den besseren Fehler gemacht.“

Durch Ostdeutschland tourt Bap schließlich doch noch, 1991, nach dem Fall der Mauer.

Niedecken sagt später einmal über die Rückreise von der geplatzten DDR-Tournee: „Wir fühlten uns deshalb beschissen, weil wir mittlerweile kapiert hatten, dass die Leute sowieso wussten, wieso wir da spielen. Das Lied wäre gar nicht nötig gewesen.“

Martin Kaluza, Mai 2023

Neues vom Universal Soldier

Buffy Sainte-Marie: The War Racket (2017)

„And war is never, ever holy. It’s just the greedy man’s dream
And you two-faced crusaders: Both sides are abscene
War’s not made by God: War’s made by men
Who misdirect our attention while you thieves do your thing

Buffy Sainte-Marie: „The War Racket“
Buffy Sainte-Marie – The War Racket
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Buffy Sainte-Marie wartet auf dem Flughafen von San Francisco auf ihren Anschlussflug. Sie ist auf dem Weg aus Mexiko zurück nach Toronto, und mitten in der Nacht beobachtet sie, wie Verletzte aus einem Flugzeug getragen werden. Sie fragt einen Arzt, der mit ihnen aus dem Flugzeug stieg, was es mit ihnen auf sich habe. Das seien, erklärt er, Soldaten, die in Vietnam verwundet wurden.

In der US-amerikanischen Öffentlichkeit wird kaum über Verwundete und Gefallene gesprochen. Die Regierung inszeniert sich noch als Macht, die eine Eskalation des Kriegs vermeidet, während sie in Wirklichkeit genau das betreibt. Die junge Sängerin ist erschüttert und schreibt einen Song. Sie fragt sich, wer die Verantwortung für den Krieg hat, und sieht sie selbstkritisch bei uns allen. Über den „Universal Soldier“, der für alle Länder und auf allen Seiten käpft, singt sie: „Er weiß, er sollte nicht töten, und er weiß, er wird immer tun – dich für mich, mein Freund, und mich für dich.“ Zum weltweiten Hit wird der Song ein Jahr nachdem Sainte-Marie ihn veröffentlicht hat, in der Interpretation des britischen Folk-Sängers Donovan.

Buffy Sainte-Marie – The Universal Soldier
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Sainte-Marie wird in einem Reservat in der kanadischen Provinz Saskatchewan geboren. Unter Umständen, die nicht bekannt sind, wird sie von ihren Eltern, die dem Volk der Cree angehören, getrennt und von einer Familie in den USA adoptiert. Sie gehört zu den ersten Stimmen, die darüber singen, wie der Staat die Kultur der indigenen Bevölkerung bekämpft, und von den Schicksalen der Kinder, die wie sie selbst ihren Familien weggenommen wurden. Mit eindringlichem Vibrato singt ihrem oft weißen Publikum ins Gewissen. Im Song „My Country ‚Tis of Thy People You’re Dying“ rechnet sie furios mit der kolonialen Geschichte der USA ab, die ihren Anfang in der Ankunft Kolumbus‘ und dem folgenden Völkermord an den ursprünglichen Bewohnern des Kontinents sieht.

Buffy Sainte-Marie – My Country Tis of Thy People You’re Dying
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Das Engagement bringt ihr auch Ärger ein, vor allem in den USA: Unter den Präsidenten Nixon und Johnson werden ihre Lieder aus dem Radio verbannt – darin teilt sie das Schicksal ihres Freundes Pete Seeger.

Als Songwriterin macht sie sich dennoch einen Namen. Sie ist mit Bob Dylan befreundet. Zu ihren Fans zählt eine noch unbekannte kanadische Liedermacherin namens Joni Mitchell, die einmal sagen wird, dass Sainte-Marie, eine der wenigen Frauen in der Musikszene, ihr Vorbild war. Janis Joplin singt Sainte-Maries Song „Codine“. Ihre Ballade „Until It’s Time For You To Go“ wird von Elvis Presley, Neil Diamond, Barbra Streisand, Cher, Nancy Sinatra, Roberta Flack und Shirley Bassey gecovert. Und für ihre Beteiligung am Filmsong „Up Where We Belong“, gesungen von Joe Cocker und Jennifer Warnes, gewinnt sie als erste indigene Person einen Oscar.

Von 1975 bis 1981 gehört Sainte-Marie sogar dem Ensemble der Sesamstraße an. Sie nutzt die Gelegenheit, der Mehrheitsgesellschaft zu zeigen, das in ihrem Land indigene Menschen leben. Und nebenbei bringt sie ein feministisches Anliegen an: Im Gespräch mit dem großen, gelben Vogel Bibo stillt sie vor laufender Kamera ihr Baby – in der US-Öffentlichkeit bis heute ein Tabu.

Ihr Einfluss reicht, zumindest in den USA und Kanada, bis heute. 2018 baut der so erfolgreiche wie umstrittene Rap-Star Kanye West einen Ausschnitt aus Sainte-Maries „Lazarus“ in seinen Song „Dead or Alive“ ein. 2019 wählt Quentin Tarantino ihre Interpretation des Joni Mitchell-Klassikers „The Circle Game“ für den Soundtrack seines Films „Once Upon A Time In Hollywood“ aus.

50 Jahre nach Beginn ihrer Karriere lebt Sainte-Marie auf Hawaii, züchtet Ziegen und beschäftigt sich als Künstlerin und Musikerin noch immer mit der Frage nach Krieg und Verantwortung. 2017 veröffentlicht sie den Song „The War Racket“, der wie die Fortsetzung des Universal Soldier wirkt. Inzwischen ist Donald Trump Präsident der USA, und seine Frisur taucht auch als Karikatur im Video auf. Doch Sainte-Marie richtet sich vor allem an die Protagonisten des Irak-Kriegs: „You Saddams and you Bushes, you Bin Ladens and snakes!“

Der Titel geht zurück auf den Essay „War Is A Racket“ („Krieg ist ein schmutziges Geschäft“), den der ehemalige Generalmajor der Marines Smedley D. Butler 1935 veröffentlichte. Butler rechnete mit den Kriegen ab, die die USA in der Karibik führten, kritisierte den Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg und warnte vor einer sich anbahnenden Auseinandersetzung mit Japan.

Die Kapitelüberschriften lesen sich wie die Gliederung des Songs: „Krieg ist ein schmutziges Geschäft.“ „Wer verdient daran?“ „Wer bezahlt die Rechnung?“ Sainte-Maries antwortet in präzisem Sprechgesang: Krieg wird nicht von den Menschen gemacht, auch nicht von Gott. Sondern von den Politikern und Profiteuren. Die Mächtigsten der Welt, sie machen gemeinsame Sache mit den Verbrechern, und die Armen bezahlen dafür. Sie beschreibt, wie sich die Muster mit trauriger Regelmäßigkeit wiederholen, alle dreißig Jahre: „When all sides are dying in the patriot game / It’s the war racket.“ Wenn alle Seiten in dem patriotischen Spiel sterben – das ist das schmutzige Geschäft des Kriegs.

Martin Kaluza, April 2023

Ein ukrainisches Volkslied geht um die Welt

Andriy Khlyvnyuk: Chervona Kalyna (2022)

„Ach, auf der Wiese steht der rote Schneeball tief geneigt.
Unsere ruhmreiche Ukraine ist betrübt.
Und wir werden diesen roten Schneeball wieder aufrichten,
Und wir werden unsere ruhmreiche Ukraine, hej-hej, aufmuntern!

Chervona Kalyna (Der rote Schneeball)
Pink Floyd – Hey Hey Rise Up feat. Andriy Khlyvnyuk of Boombox (7.4.2022)
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Als das Telefon klingelt, ist Andriy Khlyvnyuk vorsichtig. Der Anrufer gibt sich als David Gilmour aus, Gitarrist und Sänger der legendären Rockband Pink Floyd. Khlyvnyuk hat selbst eine Band, er ist Sänger bei BoomBox, einer der bekanntesten Gruppen der Ukraine. Doch seit ein paar Tagen herrscht Krieg: Russland hat das Land angegriffen, während Khlyvnyuk in den USA war. Er hat die Tournee sofort abgebrochen und sich dem Militär angeschlossen, um seine Heimat zu verteidigen.

Khlyvnyuk hat eine sehr lose Verbindung zu Gilmour. Seine Band hatte nämlich 2015 einmal in London mit dem Gitarristen zusammen gespielt, bei einem Benefiz-Konzert für das Freie Theater Belarus, dessen Mitglieder verhaftet worden waren. BoomBox stand auf der Bühne, nur Khlyvnyuks Visum war nicht rechtzeitig gekommen. Die Band spielte damals zusammen mit Gilmour den Pink Floyd-Song „Wish You Were Here“ – für ihn.

Khlyvnyuk bittet den Anrufer, sich noch einmal per Videoanruf zu melden. Er will sichergehen, dass er keinem schlechten Scherz aufsitzt. Im Telefon erscheint der echte David Gilmour.

Der Gitarrist bittet den verwundeten Sänger um Erlaubnis, ein Instagram-Video zu nutzen, das er am 27. Februar aufgenommen hatte, drei Tage nach Beginn des russischen Überfalls. Khlyvnyuk singt darin die erste Strophe des Volksliedes „Der rote Schneeball auf der Wiese“. Es stammt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und erinnert an die Ukrainische Legion, einen Freiwilligenverband Österreich-Ungarns, der vom ukrainischen Hauptrat in Galizien gegründet wurde, noch bevor sich mit der Ukrainischen Volksrepublik erstmals ein ukrainischer Staat von Russland unabhängig machte.

Andriy Khlyvnyuk – Chervona Kalyna (27.2.2022)
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Gilmour hat das Video von seiner Schwiegertochter zugeschickt bekommen, sie ist Ukrainerin. Khlyvnyuks Gesang berührt ihn: „Er steht dort auf einem Platz in Kiew vor der Kirche mit dieser wundervollen goldenen Kuppel und singt in der Stille einer Stadt, in der Verkehr und Hintergrundgeräusche wegen des Krieges verstummt sind. Ich wollte Musik zu diesem kraftvollen Moment schreiben.“

Gilmour ist nicht der erste, der diesen Gedanken hat. Kurz nach Khlyvnyuks Instagram-Post hatte der südafrikanische Produzent „The Kiffness“ den Song bereits am 4. März mit einem Beat unterlegt und weltweit bekannt gemacht.

Andriy Khlyvnyuk x The Kiffness – Ukrainian Folk Song Army Remix (4.3.2022)
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Nur wenige Tage vor dem russischen Angriff war das ukrainische Eistanz-Paar Oleksandra Nasarowa und Maksym Nikitin von den Olympischen Winterspielen aus Peking nach Charkiw zurückgekehrt – eine Stadt, die gleich zu Beginn schwer von den Kampfhandlungen betroffen war. Als das Eistanzpaar einen Monat später an der Weltmeisterschaft in Montpellier teilnahm, wählte es die von The Kiffness bearbeitete Version – etwas beschleunigt – als Musik für den Rhythmischen Tanz. Der ursprünglich eingeplante Song „Hit the Road, Jack“ erschien ihnen inzwischen als unpassend.

Oleksandra Nasarowa und Maksym Nikitim auf der Eislauf-WM in Montpellier (26.3.2022)
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein facebook-Link mit dem Video

David Gilmour jedenfalls analysiert den A cappella-Gesang, vergleicht ihn mit anderen Interpretationen desselben Liedes und schreibt um die Stimme herum eine Begleitung. Er strickt noch einen Instrumentalteil daran, in dem er, wie er es ausdrückt, „der Rockgitarrengott“ sein kann. Als Intro sucht er eine Aufnahme des ukrainischen Chors Veryovka heraus.

Drummer Nick Mason ist sofort einverstanden, den Song unter dem Namen der alten Band zu veröffentlichen. Eine musikalische Sensation: Es ist der erste neue Pink Floyd-Song seit 1994. Die Musiker spielen das Stück an einem Tag in der Scheune ein, in der sie schon während des Corona-Lockdowns Online-Konzerte gespielt hatten. „Wir haben diesen Namen, und wir haben unsere Plattform, und die wollten wir nutzen“, sagt Gilmour. „Wir wollen diese Friedensbotschaft verbreiten, und wir wollen die Moral der Menschen heben, die für ihre Heimat kämpfen.“

Als Gilmour den Sänger Andriy Khlyvnyuk das nächste Mal kontaktiert, liegt dieser im Krankenhaus. Er zeigt ein Stück Schrapnell vor, das sich in seine Wange gebohrt hatte und das er nun in einer Plastiktüte aufbewahrt.

Während David Gilmour die Ukrainerinnen und Ukrainer unterstützt, geht sein ehemaliger Bandkollege Roger Waters den umgekehrten Weg. Im September veröffentlicht er auf facebook einen offenen Brief an Olena Selenska, die Frau des ukrainischen Präsidenten. Er wirft ihrem Ehemann vor, er habe sich totalitären, antidemokratischen Bestrebungen angeschlossen, die den Willen der Menschen in der Ukraine missachten, die Ukraine werde von extrem nationalistischen Kräften beherrscht. Den US-Präsidenten Joe Biden bezeichnet er als Kriegstreiber, und die Verantwortung, den Krieg schnell zu beenden, liege bei Selenskyi.

Martin Kaluza, Februar 2023

Feminismus auf dem Dancefloor

Eurythmics & Aretha Franklin: „Sisters Are Doin‘ It For Themselves“ (1985)

„We got lawyers, doctors, politicians, too (…)
Sisters are doin‘ it for themselves
Standin‘ on their own two feet
And ringin‘ on their own bells

Eurythmics & Aretha Franklin: „Sisters Are Doin‘ It For Themselves“
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Schon mit dem ersten Hit der Eurythmics fällt Annie Lennox auf. Im Video zu „Sweet Dreams (Are Made of This)“ trägt die Sängerin kurze, knallorange gefärbte Haare und einen Männeranzug. Ein gefälliges Popstar-Lächeln spart sie sich. Mit dem androgynen Look wird Lennox 1983 aus dem Stand zur Ikone: Sie schafft es, alle Blicke auf sich zu ziehen, aber gleichzeitig entzieht sie sich dem männlichen Blick. Lennox selbst erklärt: „Es ging darum zu sagen: Ich bin weiblich, aber ich habe eine maskuline Seite, und diesen Teil von mir will ich nicht leugnen.“

In der Zeit ihres künstlerischen Durchbruchs interessiert sich Lennox für die Bewegung der Suffragetten, die in Großbritannien und den USA Anfang des 20. Jahrhunderts mit Protestmärschen und Hungerstreiks das Frauenwahlrecht erkämpft hatten. Und sie stellt sich selbst eine Aufgabe: „Die Herausforderung lautete, einen Popsong zu schreiben, der im Radio gespielt wird und trotzdem eine feministische Hymne ist. Eines Morgens habe ich den Text in einem Rutsch geschrieben.“

Der neue Song heißt „Sisters Are Doin‘ In For Themselves“, „Die Schwestern machen das für sich selbst“. Früher habe man gesagt, hinter jedem stehe Mann stehe eine starke Frau, schreibt Lennox. Doch die Zeiten haben sich geändert, die Frauen stehen nun für sich selbst und ihre eigenen Anliegen ein. Sie lassen die Küche hinter sich, und man muss sich nur umsehen: Die Ärztinnen, Anwältinnen und Politikerinnen sind schon da. Das Ganze verpacken die Eurythmics in einen munteren Popsong, der auf den Dancefloor.

Lennox findet von Beginn an, dass eine zweite Stimme dem Song guttun würde. Auf der Suche nach einer Duettpartnerin holen sich die Eurythmics zunächst eine Abfuhr: Tina Turner mag den Song nicht singen, der Inhalt ist ihr zu feministisch. Aretha Franklin hingegen sagt zu. Annie Lennox muss nur noch Franklins Bedenken ausräumen, ob es in dem Song etwa um weibliche Selbstbefriedigung gehe.

Aretha Franklin, eine Generation älter als Annie Lennox, hatte 1967 mit „Respect!“ einen ihrer größten Hits und gilt seitdem weltweit als Fürsprecherin der Frauen- und der Bürgerrechtsbewegung. Das Video zeigt im Wechsel die Sängerinnen auf der Bühne und eine Kollage von Filmschnipseln. Sie reichen von Frauen, die von einem Steinzeitmann mit Keule an den Haaren herumgeschleift werden, bis hin zu Frauen, die als Mechanikerin, Ärztin, Astronautin arbeiten. Einige Passagen sind dem britischen Nouvelle Vague-Film „Nur ein Hauch Glückseligkeit“ von 1962 entliehen.

Ein Detail im Video zu „Sisters“ wird von vielen weißen Fans übersehen, doch das schwarze Publikum erkennt das Signal sofort: Franklin trägt an der linken Hand einen schwarzen Handschuh – ein Erkennungszeichen der Black-Power-Bewegung, das zurückgeht auf die Siegerehrung des 200-Meter-Laufs bei den Olympischen Spielen von 1968 in Mexiko. Damals reckten der Sieger Tommie Smith und der Drittplatzierte John Carlos ihre Faust mit Handschuh in den Himmel. Dass Aretha Franklins im Video auch einen trägt, ist eine Erinnerung, dass sich der Kampf für Frauenrechte nicht vom Kampf gegen Rassismus trennen lässt.

2022, vier Jahre nach Franklins Tod, veröffentlicht das FBI Akten, aus denen hervorgeht, dass sie wegen ihrer Nähe zur Bürgerrechtsbewegung 40 Jahre lang überwacht wurde.

Martin Kaluza, Januar 2023

Friedensengel, auf den Kopf gestellt

Panzerballett: Ein bisschen Frieden (2009)

„Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne
Auf dieser Erde, auf der wir wohnen
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Freude
Ein bisschen Wärme, das wünsch ich mir“

Panzerballett: Ein bisschen Frieden
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Am 24. April 1982 ist die englische Kleinstadt Harrogate Schauplatz des größten europäischen Songwettbewerbs. Der Abend ist schon fast schon rum, nur noch der Song aus Deutschland steht aus, da betritt Nicole Hohloch, eine 17-jährige Abiturientin aus dem Saarland, die Bühne. Im biederen Pünktchenkleid sitzt sie fast schüchtern auf der Bühne, klammert sich an eine riesige, weiße Gitarre, das blonde Haar wallt über die Schultern. „Ein bisschen Frieden“ heißt ihr Song – und sieht sie nicht selbst ein bisschen aus wie ein Friedensengel?

Der Song passt in die Zeit. Drei Wochen zuvor ist der Krieg zwischen dem Gastgeberland und Argentinien um eine Inselgruppe im südwestlichen Atlantik eskaliert. Gleichzeitig liegt Angst vor dem Atomkrieg liegt in der Luft. Die Sowjetunion hatte Mitte der siebziger Jahre mit SS20-Mittelstreckenraketen aufgerüstet. Kanzler Helmut Schmidt drängte auf den „Nato-Doppelbeschluss“. Die Vereinbarung sah Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt über die Begrenzung von Mittelstreckenraketen vor. Sollten die jedoch scheitern, würde die Nato mit eigenen Raketen atomar nachrüsten.

„Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel“, singt Nicole. Sie wirkt dabei nicht wie die zeittypische Friedensaktivistin. Die 400.000 jedenfalls, die keine zwei Monate später in Bonn gegen die Nachrüstung und den Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan demonstrieren, sehen ganz anders aus. Nicht so bieder. Nicht so katholisch. Und im Gegensatz zu Bands wie Bap und dem Künstler Joseph Beuys tritt Nicole bei der großen Friedensdemo gar nicht auf. Und warum eigentlich fordert sie nur „ein bisschen“ Frieden?

Doch immerhin, das muss man an dem Abend in Harrogate ihr und Grandprix-Dauerteilnehmer Ralph Siegel lassen: Nicole und ihr Song sind eine Botschaft an die Europäischen Nachbarn. Von einem Deutschland, das einen solch harmlosen Engel ins Finale schickt, muss sich nun wirklich niemand mehr fürchten. Und es würde sicher auch keine Inseln im Südatlantik angreifen.

Das Lied gewinnt mit großem Vorsprung, es bekommt von allen Ländern Punkte – mit der Ausnahme Luxemburgs. In der Wiederholung singt Nicole es viersprachig auf Deutsch, Französisch, Englisch und Niederländisch.

Das Lied wird ein Nummer-1-Hit und sticht 1982 unter den hedonistischen Krachern an der Spitze der Charts – „Polonäse Blankenese“, „Skandal im Sperrbezirk“, „Der Kommissar“, „Ich will Spaß“ und „Adios Amor“ – deutlich hervor.

Wir spulen vor ins Jahr 2009. Auftritt Jan Zehrfeld. Der 1977 geborene Münchner hatte zunächst Cello gelernt und dann auf Jazz- und Metall-Gitarre umgeschult. Ein guter Teil des Repertoirs seiner Band Panzerballett besteht aus Coverversionen bekannter Songs, die Zehrfeld komplett gegen den Strich bürstet. Seine Technik, Songs zu bearbeiten, bezeichnet er als „Verkrassung“. In den meisten Fällen ist das einfach ein Spaß auf hohem Niveau.

Doch als er sich den Nicole-Song von 1982 vornimmt, passiert etwas Magisches: „Ein bisschen Frieden“, nun gesungen von Conny Kreitmeier, wird aller Spuren von Naivität beraubt.

Martin Kaluza, Dezember 2022

Diversität, aktualisiert

Billy Bragg: Sexuality (1991/2021)

„I’ve had relations with girls from many nations
I’ve made passes at girls from all classes
And just because you’re gay I won’t turn you away
If you stick around I’m sure that we can find some common ground

Sexuality – Strong and warm and wild and free
Sexuality – Your laws do not apply to me“

Billy Bragg: Sexuality
Popsong Jahrgang 1991: Billy Braggs „Sexuality“
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Mitte der 1980er Jahre, auf dem Höhepunkt der AIDS-Epidemie, herrscht in der britischen Öffentlichkeit eine homophobe Stimmung. Die konservative Regierung tut wenig, die Lage zu entschärfen. Im Gegenteil, 1988 tritt das Gesetz „Section 28“ in Kraft, das öffentlichen Einrichtungen die „Förderung der Homosexualität“ verbietet – an Schulen und in Behörden darf nur negativ über sie berichtet werden.

1991 nimmt sich der Protestsänger Billy Bragg sich des Themas an. Er war durch seine vom Punkrock inspirierten Auftritte bekannt geworden, hatte die Bergarbeiterstreiks der 80er Jahre mit E-Gitarre und viel Zorn in der Stimme unterstützt. Jetzt möchte er poppiger klingen, zugänglicher. Bragg findet, dass Sexualität einen fröhlichen, lustvollen Song verdient hat. Zusammen mit Johnny Marr, dem Gitarristen der legendären Indieband „The Smiths“, schreibt er „Sexuality“. Bragg singt, er habe mit Mädchen aus vielen Ländern Beziehungen gehabt und mit Frauen aller sozialen Klassen geflirtet. Beschwingt fährt er fort: „And just because you’re gay I won’t turn you away / If you stick around maybe we can find some common ground“.

Der Ton ist in der aufgeheizten Situation bewusst freundlich-leger: „Nur weil du gay bist, werde ich dich nicht wegschicken. Wenn wir etwas Zeit miteinander verbringen, finden wir bestimmt eine Menge Gemeinsamkeiten.“

Dreißig Jahre später ändert Billy Bragg genau diese Zeilen. Bei seinen Auftritten singt er im November 2021: „And just because you’re ‚they‘ I won’t turn you away, if you stick around I’m sure that we can find the right pronouns“. Frei übersetzt heißt das: „Nur weil du dich nicht auf ein Geschlecht festlegen lässt, werde ich dich nicht wegschicken. Wenn wir etwas Zeit miteinander verbringen, finden wir bestimmt die passenden Pronomen.“ In den Ansagen ruft er Unterstützung von Stonewall auf, einer der wichtigsten Initiativen, die sich für die Rechte von LGBTQ- Personen einsetzen.

Update dreißig Jahre später: 2021 spielt Billy Bragg „Sexuality“ mit aktualisiertem Text.
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

In den Sozialen Medien muss Bragg zum Teil Kritik einstecken. Steht er nicht mehr an der Seite der Schwulen? Auch wird er von einer feministischen Fraktion kritisiert, die sich von Transgender-Frauen bedroht fühlt – und die ihnen zum Beispiel das Recht abspricht, Frauentoiletten zu nutzen.

Der Musiker erklärt sich ausführlich in einem Gastbeitrag in der linken Wochenzeitung „New Statesman“. Dass er den Songtext geändert habe, sei „Ausdruck meiner Allyship mit der Trans- und nicht-binären Community“. Allyship – der in neueren linken Debatten geläufige Ausdruck überschneidet sich in vielen Aspekten mit dem, was alte Linke unter Solidarität verstehen.

In den letzten 30 Jahren, schreibt Bragg, habe es viele Fortschritte gegeben. Schwule und Lesben genießen mittlerweile die gleichen Rechte und den gleichen Schutz wieder alle anderen auch – Section 28 ist Geschichte. Doch trotz all der Fortschritte gäbe es eine marginalisierte Gruppe, deren Legitimität auch in liberalen Kreisen mitunter in Frage gestellt werde: Transgender-Frauen.

„Ich lasse die Gay Community nicht verschwinden, wenn ich den Text von ‚Sexuality‘ ändere, sondern ich aktualisiere ihn angesichts der veränderten Zeiten, in denen wir leben. Ich hoffe, dass ich andere Angehörige meiner Generation ermutige, mit ihrem liebgewonnenen Verständnis von Inklusion dasselbe zu tun.“

Martin Kaluza, Oktober 2022

Aussöhnung am Konzertflügel

Barbara: Göttingen (1964)

Et lorsque sonnerait l’alarme
S’il fallait reprendre les armes
Mon cœur verserait une larme
Pour Göttingen, pour Göttingen

Barbara: Göttingen
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

„Paris besingt man immer wieder / Von Göttingen gibt’s keine Lieder“, singt Monique Andrée Serf. Damit stellt sie das beklagte Manko auch schon wieder ab. Serf hat sich in die Stadt im südlichen Niedersachsen verliebt, obwohl sie sie erst gar nicht besuchen wollte. Am Ende schreibt sie ein Chanson über Göttingen, das heute in Frankreich jeder mitsingen kann.

Frühling 1940, der letzte Zug verlässt die Stadt Blois, die neunjährige Monique ist an Bord. Ihre Tante soll sie in Sicherheit bringen, die Mutter winkt am Bahnsteig. Nach hundert Kilometern hält der Zug auf freier Strecke in der Ebene von Châtillon-sur-Indre einfach an, die Lok wird abgekoppelt. Die Reisenden sind auf sich selbst gestellt, man erlaubt den Kindern, bei den umliegenden Höfen etwas zu Essen zu besorgen.

Am fünften Tag erscheinen drei Jagdflugzeuge am Himmel und beschießen die Waggons. Monique erkennt die Hakenkreuze unter den Flügeln. Es gibt Tote und Verletzte. „Ich kann mich nicht mehr dran erinnern, wie wir aus dieser Hölle herauskamen“, schreibt sie in ihren Memoiren.

Monique ist Jüdin und muss sich den ganzen Krieg über immer wieder vor den Deutschen in Sicherheit bringen, den Wohnort wechseln, mal mit, mal ohne Eltern. Aber sie hat Glück: Sie muss nicht hungern, nie den Judenstern tragen, niemand aus der Familie wird deportiert.

Zwanzig Jahre nach Abzug der Deutschen sitzt sie am Klavier in der Pariser Bar Ecluse und singt unter dem Künstlernamen Barbara ihre ersten eigenen Chansons. „Das Chanson“, sagt sie, „gehört zum Alltag eines jeden. Das ist sein Sinn, seine Stärke. Es ist sozial, satirisch, revolutionär, anarchistisch, fröhlich, nostalgisch.“

Nach einem Auftritt spricht ein Mann aus dem Publikum sie an. Er stellt sich vor als Gunther Klein, Leiter des Neuen Theaters in Göttingen und fragt, ob sie nicht dort einmal auftreten möchte. Ein Auftritt ausgerechnet in Deutschland? Barbara erbittet einen Tag Bedenkzeit.

Am 4. Juli 1964 reist sie nach Göttingen und ärgert sich, dass sie zugesagt hat. Auf der Bühne steht ein Klavier, hoch und klobig, nicht der vereinbarte Flügel. Am Tag zuvor hätten die Klaviertransporteure gestreikt, sagt Klein entschuldigend. Die Sängerin probiert Sitzpositionen aus. Sie will unbedingt ihr Publikum sehen, doch mit dem hohen Ding geht das nicht. So kann sie nicht auftreten.

Eine alte Dame rettet die Vorstellung, indem sie ihren Konzertflügel zur Verfügung stellt. Zehn Studenten, die alle gut Französisch sprechen, tragen ihn quer durch die Stadt. Das Konzert beginnt mit über zwei Stunden Verspätung, das Publikum jubelt nach jedem Lied. Barbara ist gerührt, verlängert ihr Gastspiel um eine Woche und schreibt am letzten Abend im Garten des Theaters die ersten Zeilen eines Chansons über Göttingen.

Sie schreibt über blonde Kinder und die Rosen, für die die Stadt bekannt ist, über Melancholie und Märchen – sie hat das Wohnhaus der von ihr verehrten Gebrüder Grimm besucht. Kühn und symbolträchtig reimt Barbara „France“ auf „Hans“. Später nimmt sie auch eine deutsche Fassung des Liedes auf: „Was ich nun sage, das klingt freilich / Für manche Leute unverzeihlich / Die Kinder sind genau die gleichen / In Paris, wie in Göttingen“.

Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Das Lied, das fast genau ein Jahr nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags entstanden ist, wird zu einer Ikone der deutsch-französischen Aussöhnung. Barbara singt es bei jedem ihrer Konzerte: „Lasst diese Zeit nie wiederkehren / Und nie mehr Hass die Welt zerstören / Es wohnen Menschen, die ich liebe / In Göttingen, in Göttingen.“

Martin Kaluza, Oktober 2022

Der Krieg schafft Arbeitsplätze

Elvis Costello: Shipbuilding (1983)

„Is it worth it?
A new winter coat and shoes for the wife
And a bicycle on the boy’s birthday
It’s just a rumour that was spread around town
By the women and children
Soon we’ll be shipbuilding“

Elvis Costello: Shipbuilding
Elvis Costellos Version des Songs.
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Elvis Costello ist mit seiner Band The Attractions auf Tournee in Australien, als ihn die Anfrage erreicht, einen Text zu schreiben. Die Melodie gibt es schon, Robert Wyatt wird die melancholische Ballade singen. Die Nachrichten kennen gerade kaum ein anderes Thema als die Eskalation des Streits zwischen Argentinien und Großbritannien über die kleine Inselgruppe im Südwestatlantik, die von den Briten „The Falklands“ genannt wird und von den Argentiniern „Las Malvinas“.

Als am 2. Mai 1982 ein britisches Atom-U-Boot den argentinischen Kreuzer General Belgrano versenkt, steht auf der Titelseite der Londoner Boulevardzeitung ‚The Sun‘ die Schlagzeile „Gotcha!“ – „Erwischt!“ Bei dem Angriff verloren 323 Menschen ihr Leben. Costello ist entsetzt, über das Ereignis ebenso wie über die Form der Berichterstattung.

Noch während der Tournee schreibt Costello eine Geschichte aus seiner Heimat, ohne die Premierministerin Margaret Thatcher oder auch nur den Falkland-Krieg wörtlich zu erwähnen. Costello stammt aus Birkenhead, einer Industriestadt, die direkt gegenüber von Liverpool am Mersey River liegt und ebenfalls vom Schiffsbau lebt. Doch in den letzten Jahren ging es kontinuierlich abwärts, Werften haben geschlossen, Familien ihren Lebensunterhalt verloren. „1982 hatten die meisten Geschäfte die Stadt verlassen. Du konntest die gesamte Laird Street langlaufen und bist kaum einer Seele begegnet,“ schriebt Costello.

In seinem Songtext stellt er sich vor, wie plötzlich das Gerücht die Runde macht, bald würden die Werftarbeiter wieder Schiffe bauen. Auf den gleichen Schiffen ziehen die Söhne der Arbeiter schließlich in den Krieg – und hoffen, vor Weihnachten zurück zu sein. Schon die allererste Zeile des Songs stellt die entscheidende Frage: Ist es das wert?

Robert Wyatts Version des Songs.
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

„Shipbuilding“ wird ein Erfolg für Robert Wyatt, und Costello findet den Song so gelungen, dass er ihn selbst noch einmal aufnimmt.

Mit seiner Band bucht er einen Raum in den AIR-Studios in London, nebenan arbeiten Paul McCartney, Quincy Jones und Michael Jackson an gemeinsamen Songs, zwei Zimmer weiter wechseln sich Duran Duran und Alice Cooper ab. Für seine eigene Version von „Shipbuilding“ wünscht sich Costello ein Trompetensolo. Costello spricht in einem Londoner Jazzclub den legendären Trompeter Chet Baker an, der gerade für magere Gagen durch Europa tingelt. Costello zahlt ihm das Doppelte des in den USA üblichen Tariflohns und bereut später, dass der Produzent Baker einen etwas kitschigen Hall auf die Trompete gelegt hat.

Die Studioaufnahme von Elvis Costello mit Chet Baker an der Trompete.
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Und der Krieg? Ein paar Tage nachdem Costello den Text im Juni 1982 fertig hat, schweigen die Waffen. Als „Shipbuilding“ 1983 erscheint, ist der Falklandkrieg schon vorbei, nach zweieinhalb Monaten. In der kurzen Zeit erlebten die Werften keinen Aufschwung, die jungen Männer waren noch auf den alten Schiffen in den Krieg gefahren. Thatchers innenpolitisches Kalkül geht indessen auf, die Unterhauswahlen 1983 werden der größte Erfolg der konservativen Partei unter ihrer Führung.

In seiner Autobiographie schreibt Costello, er sei Protestsongs gegenüber immer skeptisch gewesen. Eine Welt ohne „Ohio“ und „Free Nelson Mandela“ mag er sich trotzdem nicht vorstellen. Er fragt sich: „Kann ein Song verändern, was die Menschen denken? Ich bezweifle das, aber ein Song kann dein Herz infiltrieren, und das Herz kann verändern, was du denkst.“ Mit „Shipbuilding“ habe er erreichen wollen, dass die Zuhörer sich weniger einsam fühlen.

Ein paar Jahre später, 1989, schreibt Costello einen expliziteren Song, in dem er sich vorstellt, dass er lange genug lebt, um eines Tages die Erde auf dem Grab einer nur bei ihrem Vornamen Margaret genannten Politikerin fest zu trampeln: „Tramp the Dirt Down“.

Martin Kaluza, August 2022

Lynchmorde in der Südstaatenidylle

Billy Holiday: Strange Fruit (1939)

„Southern trees bear a strange fruit
Blood on the leaves and blood on the root
Black body swinging in the southern breeze
Strange fruit hanging from the poplar trees

Abel Meeropol: Strange Fruit
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Wenn im „Café Society“, dem ersten Jazzclub, in denen schwarze und weiße Gäste Zutritt haben, das Ende des Auftritts von Billy Holiday naht, hören die Kellner auf, die Tische zu bedienen. Das Licht wird ausgeschaltet, bis auf einen einzelnen Spot auf die Sängerin. Der Song, den sie dann singt, beschört eine ländliche Südstaatenidylle, in der die grausamsten Verbrechen stattfinden: „Southern trees bear a strange fruit / Blood on the leaves and blood at the root / Black bodies swinging in the southern breeze / Strange fruit hanging from the poplar trees.“ Sie braucht das Wort „Lynchmorde“ nicht einmal zu erwähnen. Holiday besingt im Jahr 1939 ein Tabuthema: Fast 4.000 wurden in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts gelyncht. 90 Prozent dieser Morde fanden in den Südstaaten statt, vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner.

Geschrieben hat den Song ein Weißer, der jüdische Lehrer Abel Meeropol, auch bekannt unter dem Pseudonym Lewis Allan und Mitglied der kommunistischen Partei. 1936 stieß er auf ein Foto, dass die Lynchmorde an den schwarzen Teenagern Thomas Shipp und Abram Smith zeigte. Verstört von dem Foto schrieb er das Gedicht „Bitter Fruit“ und veröffentlichte es im Magazin der New Yorker Lehrergewerkschaft. Später komponierte er auch die Melodie und den bot den Song über den Nachtclubbesitzer Billy Holiday an. Die Sängerin hätte ihn gern bei Columbia Records aufgenommen, doch die Firma lehnt den Song ab – zu heikel. 1939 nimmt sie ihn schließlich beim Label Commodore auf, zusammen mit drei weiteren Songs, und der Produzent sagt später über die Aufnahmen, er glaube, das sei die erste wirklich moderne Blues-Session gewesen. Die Band, mit der sie den Song einspielt, ist ihre Band aus dem „Café Society“. Von dessen Bühne aus erobert der düstere Song die Welt.

Abel Meeropol steht in der McCarthy-Ära noch einmal in der Öffentlichkeit: Mit seiner Frau Anne adoptiert er 1953 die Kinder des als angebliche Sowjet-Spione hingerichteten Ehepaars Ethel und Julius Rosenberg.

Martin Kaluza, August 2022

Der Teufelskreis der Mauer

Anaϊs Mitchell: Why We Build the Wall (2006)

„Why do we build the wall
My children, my children
Why do we build the wall?

Why do we build the wall?
We build the wall to keep us free
That’s why we build the wall
We build the wall to keep us free“

Anaϊs Mitchell: Why We Build the Wall
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Im Herbst 2016 feiert ein ungewöhnliches Musical seine Premiere in New York. Anaϊs Mitchell, eine freundlich-verhuschte Folk-Sängerin aus Vermont, hat den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike für die Gegenwart adaptiert: Die Welt ist von Umweltzerstörung und Dürren geplagt. Eurydike liebt den idealistischen Orpheus, der arm ist wie sie, weil das Land so wenig hergibt.

Hades, der König der Unterwelt, verspricht ihr das Paradies, wenn sie ihm folgt, und sie erliegt der Versuchung und verlässt Orpheus. Dort angekommen erfährt Eurydike, worin ihr Schicksal besteht: Sie ist als billige Arbeitskraft eingeplant. Von dem angeblichen Wohlstand bekommt sie nicht viel ab.

Zum ersten Mal führte Mitchell ihre Folk-Oper „Hadestown“ 2006 im Stadttheater von Barre auf, einer Kleinstadt mit 9000 Einwohnern zwischen Boston und Montreal. Da war sie frisch mit dem Studium fertig. 2010 veröffentlichte Mitchell ein Konzeptalbum mit den Songs, auf dem prominente Freunde wie Justin Vernon von der Band Bon Iver und Ani di Franco mitsingen. Mit der Dramaturgin Rachel Chavkin schreibt sie schließlich die neue Bühnenfassung, die 2016 am „Off-Broadway“ aufgeführt wird.

Den Zuschauern der Premiere bleibt vor allem bei einem Song der Atem stehen: “Why We Build the Wall”. Wie in einem Gospel schwört Hades seine Untergebenen auf den Bau einer Mauer ein. Geradezu hypnotisch singen sie sich im Frage-und-Antwort-Stil in einen Teufelskreis: Warum bauen wir die Mauer? Wir bauen die Mauer, um den Feind fernzuhalten. Der Feind ist Armut. Die Armen wollen Arbeit. Wir haben Arbeit, solange wir an der Mauer bauen. Die Mauer wird niemals fertig werden.

„Ich musste meine Jacke etwas enger ziehen, um die Gänsehaut loszuwerden“, schreibt Charles Isherwood, Musical-Kritiker der New York Times, über den Song. „Ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht zu erklären, warum.“

Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Der Song wirkt wie ein direkter Kommentar zu Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf, der gerade die USA aufwühlt: Trump will eine „wunderschöne Mauer“ entlang der mexikanischen Grenze bauen, die illegale Einwanderung verhindern und Arbeitsplätze schaffen soll. Es ist als hätte Mitchell das geahnt. Ihr Song ist da bereits zehn Jahre alt.

Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Als der britische Protestsänger Billy Bragg den Song ebenfalls 2016 in Chicago spielt, erinnert er das Publikum daran, dass zur gleichen Zeit die französische Polizei den “Calais Dschungel” räumt, eine von Geflüchteten errichtete Zeltsiedlung am Eingang des Eurotunnels. Und die EU, zu der das Vereinigte Königreich damals noch gehört, gewährt der Türkei Milliardenhilfen dafür, dass sie Geflüchtete etwa aus Syrien davon abhält, in die EU einzureisen.

Mit der Off-Broadway-Premiere ist die Geschichte noch nicht zu Ende. 2019 wird „Hadestown“ am großen Broadway gespielt und gewinnt den Tony Award für das beste Musical und die beste Musik.

Martin Kaluza, Februar 2022

Die Grenzen ausloten

Danger Dan: Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt (2021)

„Juristisch wär die Grauzone erreicht
Doch vor Gericht machte ich es mir wieder leicht
Zeig mich an und ich öffne einen Sekt
Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“

Danger Dan: Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Der Journalist und Aktionskünstler Jean Peters, Mitglied der subversiven Aktionskunstgruppe Peng Kollektiv, hat Gleichgesinnte zum Salon eingeladen: Freunde, Kunstschaffende, Medienleute. Bei Käse und Wein fragen sie sich, warum eigentlich linke Künstlerinnen und Künstler nicht konsequenter den legalen Spielraum ausloten, um ihre Anliegen zu vertreten.

Peters, ein Mann mit vielen Pseudonymen, liebt öffentlichkeitswirksame Protestaktionen. 2016 bewarf er, als Clown verkleidet, die AfD-Politikerin Beatrix von Storch mit einer Torte. Gerade erst hat er ein Buch über subversiven Widerstand geschrieben: „Wenn die Hoffnung stirbt, geht’s trotzdem weiter“.

Unter den Gästen seines subversiven Salons ist Daniel Pongratz, mit dem Peters mal eine WG hatte. Pongratz rappt unter dem Namen Danger Dan im Hiphop-Trio Antilopen Gang. Am nächsten Morgen schreibt er einen Songtext, der, wie im Salon besprochen, Grenzen auslotet: „Also jetzt mal ganz spekulativ / Angenommen, ich schriebe mal ein Lied / In dessen Inhalt ich besänge, dass ich höchstpersönlich fände / Jürgen Elsässer sei Antisemit“.

Elsässer, das muss man wissen, hatte 2014 Jutta Dittfurth verklagt, weil sie ihn einen „glühenden Antisemiten“ genannt hatte. Pongratz reizt noch weitere Figuren der rechten und neurechten Szene, den Publizisten Götz Kubitschek, Alexander Gauland. Verschwörungsfanatiker Ken Jebsen bekommt eine eigene Strophe, denn der hatte 2015 Danger Dans Band wegen eines Songs verklagt – und verloren. Jede Strophe endet mit einem vorweggenommenen Triumph: „Klag mich an und ich öffne einen Sekt / Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt.“

Im Interview mit dem Spiegel erzählt Pongratz, dass er den Text drei befreundeten Juristen gegeben habe.

Danger Dan trägt den Text nicht als Rap-Song vor, sondern er macht daraus eine Klavierballade, ganz in der Tradition der großen Spötter wie Georg Kreisler, Tom Lehrer oder Franz Josef Degenhardt. Im Video dazu sitzt er vor einem leeren Theatersaal in Bomberjacke am Flügel.

In der dritten Strophe wechselt der Song in den Indikativ: „Jürgen Elsässer ist Antisemit, Kubitschek hat Glück, dass ich nicht Bogen schieß“, „Gauland wirkt auch eher wie ein Nationalsozialist“. Und dann direkt weiter: „Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein, man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt.“

In einem furiosen Schlussteil rät Danger Dan, Staat und Polizeiapparat nicht zu trauen, schließlich habe der Verfassungsschutz den NSU mit aufgebaut und die Polizei den Asylbewerber Oury Jalloh gefesselt und angezündet. Er stellt den Staat auf die Probe: Wenn schon Polizei und Verfassungsschutz beim Schutz vor rechter Gewalt versagen, dann werden doch die Gerichte standhaft bleiben? „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt.“

Schon zuvor im Video hantierte Danger Dan mit einem Maschinengewehr und Patronen. Nun singt er: „Und wenn du friedlich gegen die Gewalt nicht ankommen kannst / Ist das letzte Mittel, das uns allen bleibt, Militanz.“ Mit der Kalaschnikow in der Hand gesungen klingt das wie eine Drohung, doch der Text bewegt sich geradezu aufreizend nah am Grundgesetz: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Am Ende des Videos wird Danger Dan mit Tomaten, Eiern und Torten beworfen – eine kleine Referenz an seinen tortenwerfenden Mitbewohner. Mit ernster Miene hält der Sänger stand, verbeugt sich vor leerem Saal und tritt von der Bühne ab. Ende des Stücks.

Martin Kaluza, Februar 2022

Mietendrama

Genesis: Get ´Em Out By Friday (1972)

„I think I’ve fixed a new deal
A dozen properties – we’ll by at five and sell at thirty four
Some are still inhabited
It’s time to send the winkler to see them
He’ll have to work some more“

Genesis: Get ´Em Out By Friday
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Den entscheidenden Tipp bekommt Peter Rachman von seiner Lieblingsprostituierten. Nirgends könne sie ein Zimmer mieten, weder für ihre Geschäfte noch zum Wohnen. Rachman, der als polnischer jüdischer Einwanderer nach dem zweiten Weltkrieg noch einen Lebensunterhalt sucht, mietet fortan Wohnungen, um sie an Leute weiterzuvermieten, die sonst auf dem Wohnungsmarkt keine Chance haben. Es ist der Beginn einer steilen Karriere im Immobilienbusiness.

Rachmans Mieten sind überteuert, doch seine Kundschaft ist dankbar. Denn ob Prostituierte oder Einwanderer aus der Karibik – Rachman tritt ihnen ohne Vorbehalte gegenüber.

Rachman operiert in Paddington, North Kensington und Notting Hill. Er beginnt, über Hypotheken finanziert, heruntergekommene Mietshäuser zu kaufen. Da die Mieten für unmöblierte Wohnungen gedeckelt sind, will er die alten Mieter loswerden. Einige bewegt er mit Abfindungen zum Auszug. Andere werfen das Handtuch, weil Rachman die Häuser verfallen lässt und die freien Wohnungen mit viel zu vielen Menschen vollstopft, bevorzugt mit Einwanderern von den Westindischen Inseln. Wenn sie bis spät in die Nacht laute Musik hören: Rachman ist es recht. Er kauft bei Entrümplern billigste Tische, Sessel und Schränke und vermietet die Wohnungen zu einem Vielfachen neu – denn für möblierte Wohnungen gilt der Deckel nicht.

Binnen elf Jahren baut Rachman ein Geflecht aus 33 Firmen auf, die seine Immobiliengeschäfte verschleiern, investiert in Nachtclubs, freundet sich mit Schauspielern an und fährt im Rolls Royce durch die Gegend. Er ist nicht der einzige Großvermieter, der Mieter systematisch vergrault, doch er ist der schillerndste.

1972 schreibt die Prog-Rock-Band Genesis einen Song über die Wohnungsmisere. „Get ‚em out by Friday“ handelt von der alleinerziehenden Mrs. Barrow und ihrer Tochter Mary. Im Verlauf des achteinhalbminütigen Gentrifizierungsdramoletts schlüpft Sänger Peter Gabriel abwechselnd in die Rollen des Vermieters, seines Angestellten, der Mutter.

Die Geschichte spielt in Harlow, einem Vorort nördlich von London, dort steht das erste Wohnhochhaus des Landes. Das Wohnungsunternehmen Styx Enterprises schickt seinen Entmietungsexperten, den „Winkler“. Er schüchtert Mrs. Barrow so gründlich ein, dass sie ihm anbietet, freiwillig die doppelte Miete zu zahlen. Doch der „Winkler“ will sie bis Freitag raus haben. Er lockt sie mit Geld: Für vierhundert Pfund Entschädigung ziehen Mutter und Tochter in einen neuen Wohnblock mit Zentralheizung, in dem sie sich überhaupt nicht wohl fühlen. Sie sind noch nicht eingezogen, da wird die Miete schon erhöht.

Der Schlusspart des Songs spielt in der Zukunft, im Jahr 2012. Die Miethaie haben sich mit der Gentechnik verbündet. Sie setzen durch, dass Menschen nur noch vier Fuß groß sein dürfen – etwa einen Meter zwanzig. Die Idee: So passen doppelt so viele Menschen in die gleiche Anzahl Wohnungen. Und die Eigentümer kassieren doppelt.

Peter Rachman, das reale Vorbild für den Vermieter aus dem Song, stirbt 1962 an einem Herzinfarkt als Millionär. Das Oxford Dictionary führt den Begriff „Rachmanism“ bis heute – als Synonym für die „Ausbeutung und Einschüchterung von Mietern durch skrupellose Vermieter“.

Martin Kaluza, Januar 2022

Der Staat rappt zurück

Yotuel, Gente De Zona, Descemer Bueno, Maykel Osorbo, El Funky: Patria y Vida (2021)

„Schluss mit den Lügen
Mein Volk will Freiheit und keine Doktrinen mehr
Wir rufen nicht mehr ‚Heimat oder Tod!‘
Sondern ‚Heimat und Leben!'“

Yotuel u.a.: Patria y Vida
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Am 19. April 2018 endet die Ära Castro. Mit Miguel Díaz-Canel wählt die Nationalversammlung Kubas erstmals einen Staatschef, der nach der Revolution geboren wurde. Eine seiner ersten Amtshandlungen ist die Unterzeichnung des Dekrets mit der Nummer 349, das die Kunstfreiheit weiter einschränkt. Alle Kulturveranstaltungen müssen nun genehmigt werden, selbst solche, die in Privaträumen stattfinden, von Konzerten über Dichterlesungen bis hin zu Malwettbewerben.

Kurz bevor das Dekret in Kraft tritt, im Dezember 2018, werden mehrere Künstler bei Protesten vor dem Ministerium für Kultur verhaftet. Unter ihnen ist die Performancekünstlerin Tania Bruguera. Die Tate Modern, an der gerade eine ihrer Installationen läuft, solidarisiert sich.

Der Staat erhöht den Druck. Konzerte werden willkürlich abgesagt. Immer wieder greift sich die Polizei einzelne Rapper, Künstlerinnen und Aktivisten heraus und verhaftet sie, oft nur für ein paar Stunden – die UN dokumentiert die Repressionen. Die Kunstszene lässt sich jedoch nicht einschüchtern. Einige treten in den Hungerstreik, andere organisieren Demonstrationen und gründen Initiativen für die Meinungs- und Kunstfreiheit, etwa das „Movimiento San Isídro“, benannt nach einem Stadtteil Havannas, in dem viele Künstler leben.

Anfang 2021 schreibt Yotuel Romero, Sänger der kubanischen Rap-Combo Orishas, einen Protestsong. Bislang war er nichts als Systemkritiker in Erscheinung getreten. Nun prangert er, unterstützt von fünf weiteren Musikern, die Versorgungslage in dem seit Jahrzehnten vom Handelsembargo gebeutelten Land an, die sich mit der Covid-Pandemie und dem Einbruch des Tourismus dramatisch zugespitzt hat. Sie beklagen mangelnde Meinungsfreiheit, staatliche Willkür und Polizeigewalt. Im Refrain singen sie: „Wie rufen nicht mehr ‚Patria o muerte‘, sondern ‚Patria y vida’“ – nicht „Vaterland oder Tod“, sondern „Vaterland und Leben“. Allein das ist eine Provokation. Mit dem Schlachtruf „Patria o muerte!“ leitete Ché Guevara der Legende nach im Dezember 1956 die kubanische Revolution ein.

In Kuba, wo das Internet langsam und teuer ist, kursiert das Lied rasend schnell auf USB-Sticks. Eine Kommentatorin der staatlichen Nachrichtenagentur ACN schreibt, der Song sei „annexionistische Kotze, die denen in den Mund gelegt wurde, die angeblich und fälschlicherweise die kubanische Kultur repräsentieren.“ In anderen staatlichen Medien lautet der Vorwurf: Das sind alles Söldner, bezahlt aus dem Ausland. Gemeint ist vor allem Miami, wo eine große und einflussreiche Community von Exilkubanern lebt, unter ihnen viele nervige Anti-Kommunisten und Trump-Wähler. In Miami wurde der Song produziert. Zwei Rapper des Movimiento San Isídro schickten ihre Gesangsparts aus Havanna.

Und der Staat schlägt mit gleichen Waffen zurück: Er rappt. In einem abstrusen Video des Innenministeriums singen junge Polizisten erst in Zivil, später im Uniformhemd: „An alle, die glauben, sie könnten unseren Ruf durch eine Konterrevolution beflecken: Fickt Euch! Es heißt ‚patria o muerte‘, nicht wie Du sagst ‚patria y vida‘.“ Im Hiphop würde man das einen Diss-Track nennen. Ein paar Zeilen später die dringliche, in sozialistischen Staaten bekannte Aufforderung zur Selbstkritik: „Ich lade Dich ein, die Welt durch meine Augen zu sehen. Dann erkennst Du, wie der Verrat in das Herz eindringt und es ganz auffrisst.“

Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Ein zweiter Song richtet sich an andere musikalische Geschmäcker. In fast schon religiöser Verzückung strahlt die Sängerin einer flotten Popballade: „Die Revolution wird noch 62.000 Jahrtausende bestehen!“ Der Titel des Songs sucht die Synthese: „Patria o muerte – für das Leben!“

Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Im Juli 2021 gehen in San Antonio de los Baños, einer Kleinstadt unweit von Havanna, tausende Kubanerinnen und Kubaner auf die Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Rasend schnell verbreitet sich die Nachricht auf der Insel, Proteste in anderen Städten folgen, zwischenzeitlich schaltet die Regierung das Internet ab. Es sind die größten Proteste seit 1994. Und im Großen wiederholt sich die Rhetorik, die der Staat schon in der Reaktion auf Yotuels Song aufgeboten hatte: Die Proteste seien alle aus den USA gesteuert. Der Ausruf „Patriy y Vida“ hallt da schon längst als Sprechchor durch die Straßen.

Martin Kaluza, Juli 2021

Die Spur der Züge

Steve Reich: Different Trains (1988)

„Lots of cattle wagons there
They were loaded with people
They shaved us
They tattooed a number on our arms
Flames going up to the sky – it was smoking“

Steve Reich: Different Trains
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Stephen Michael Reich ist vielleicht der bedeutendste zeitgenössische Komponist Amerikas. Eines seiner bekanntesten Werke ist tief mit seiner Biografie und seiner jüdischen Identität verwoben. Reich ist ein Scheidungskind – seine Eltern trennen sich, als er ein Jahr alt ist. Die Mutter zieht nach Los Angeles und arbeitet dort als klassische Sängerin. Der Vater, ein Anwalt, bleibt in New York.

Weil sich beide um den Jungen kümmern wollen, reist er oft mit dem Zug zwischen den Städten hin und her, begleitet von seiner Gouvernante. Für Stephen, 1936 geboren, sind die viertägigen Fahrten ein Abenteuer. Fast 50 Jahre später erinnert sich Reich an die Reisen: „Gott weiß, warum mir die Zugreisen meiner Kindheit im Kopf herumschwirrten. Ich erinnerte mich an den typischen Sound, den amerikanische Züge hatten. Ich dachte an all die musikalischen Stücke, die mit Zügen zu tun hatten, an ‚Night Train‘, ‚Soultrain‘, ‚Chattanooga Choo Choo‘. In unserer Musik gibt es eine Kultur von Zügen.“

Die Erinnerung an die Züge seiner Kindheit beunruhigt Reich: „Diese Fahrten waren damals aufregend und romantisch. Doch heute schaue ich zurück und mache mir bewusst, dass ich als Jude in andere Züge hätte steigen müssen, wenn ich zu dieser Zeit in Europa gewesen wäre.“ Einmal sagt er: „Es gibt ein Foto aus dem Warschauer Getto von einem kleinen Jungen, sechs oder sieben Jahre alt. Er hat eine Mütze auf und kurze Hosen an. Er sieht genauso aus wie ich in dem Alter.“

Mit einem Tonbandgerät besucht er sein über 70 Jahre altes Kindermädchen Virginia. Er lässt sich von ihren gemeinsamen Zugfahrten erzählen. Als Nächstes nimmt er ein Gespräch mit Lawrence Davis auf, einem über 80-jährigen pensionierten Schaffner, der auf der Strecke New York–Los Angeles arbeitete. Schließlich besorgt sich Reich Sprachaufnahmen dreier Holocaust-Überlebender, die nun in den USA leben: Rachella, Paul und Rachel. Aus ihren Erzählungen hört er die Sprachmelodie einzelner Sätze heraus und notiert sie als Noten. Er arrangiert daraus kurze, rhythmisch wiederkehrende Tonfolgen als Musik für ein Streichquartett. Bei Konzerten spielt ein Tonband die Stimmen ab, dazu das Pfeifen von Zügen, kreischende Bremsen, Sirenen.

Sein Stück „Different Trains“ hat drei Sätze: „Amerika – vor dem Krieg“ steht für Reichs Reisen zwischen den Elternteilen. In „Europa – während des Krieges“ kommen die Holocaust-Überlebenden zu Wort. Im dritten Satz, „Nach dem Krieg“, ist Pauls Stimme zu hören: „Und der Krieg war vorbei.“ Rachella fragt: „Bist du sicher?“

Reich, der Philosophie und an der New Yorker Juilliard School Komposition studiert hat, ist bekannt für die Montage sich wiederholender kleiner Melodiesegmente. Er hat die Stilrichtung der Minimal Music geprägt.

In den letzten Jahren hat er die bislang rein instrumentale Musik um Sprache ergänzt. Seine Stücke werden in Konzertsälen und Museen aufgeführt. „Ich liefere keine Interpretation des Holocaust“, sagt er. „Ich präsentiere Menschen, die über ihr eigenes Leben sprechen. Die Musik folgt dem, wie sie sprechen. Wenn ‚Different trains‘ funktioniert – und danach sieht es aus –, dann liegt es daran, dass die dokumentarische Realität und die musikalische Realität eins sind.“

Martin Kaluza, Februar 2021

Der Kunst-Star singt gegen die Nachrüstung an

Joseph Beuys: Sonne statt Reagan (1982)

„Wir wollen Sonne statt Reagan
ohne Rüstung leben!
Ob West, ob Ost,
auf Raketen muss Rost!

Joseph Beuys: Sonne statt Reagan

Als US-Präsident Ronald Reagan zum Nato-Gipfeltreffen nach Deutschland kommt, versammeln sich 400.000 Menschen auf den Rheinwiesen im Bonner Stadtteil Beuel. Allerdings nicht, um ihm zuzujubeln. Am 10. Juni 1982 protestiert ein breites Bündnis aus Linken und Gewerkschafterinnen, aus eher unpolitischen Bürgern und Christen gegen die Nachrüstungspläne der Nato. Es ist die bislang größte Demo in der Geschichte der Bundesrepublik. Die westdeutsche Friedensbewegung steht auf ihrem Höhepunkt.

Während des Musikprogramms steigt ein Mann mit Filzhut auf die Bühne: Der Kunst-Star Joseph Beuys greift sich das Mikrofon. Begleitet von der sozial engagierten Band Bap setzt er nicht etwa zu einer Rede an, sondern er singt: „Wir wollen Sonne statt Reagan! / Ohne Rüstung leben / Ob West, ob Ost / Auf Raketen muss Rost!“

Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Angst vor dem Atomkrieg liegt in der Luft. Die Sowjetunion hatte Mitte der siebziger Jahre massiv mit atomaren Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 aufgerüstet. SPD-Kanzler Helmut Schmidt sah das Gleichgewicht der atomaren Abschreckung in Gefahr und drängte gemeinsam mit dem britischen Premier James Callaghan und Frankreichs Staatschef Valéry Giscard d’Estaing den damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter zum „Nato-Doppelbeschluss“. Die Vereinbarung vom 12. Dezember 1979 sah Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt über die Begrenzung von Mittelstreckenraketen vor. Sollten die jedoch scheitern, würde die Nato mit eigenen Mittelstreckenraketen atomar nachrüsten.

Die Friedensbewegung weigert sich zu glauben, dass noch mehr Raketen Europa sicherer machen würden. Allein in der Bundesrepublik sind ohnehin bereits 7.000 Atomraketen stationiert.

Joseph Beuys ist schon lange politisch engagiert. Mehr noch: Er versteht den Beitrag der Kunst zur Gestaltung der Gesellschaft als soziale Plastik. Beuys setzt sich für direkte Demokratie ein und zählt 1979 zu den Gründungsmitgliedern der Grünen. Einmal trifft Beuys den Dalai Lama, für den er eigens eine Fettecke anfertigt. Allerdings bleibt das Gespräch, in dessen Verlauf fast ausschließlich Beuys redet und in dem er unter anderem ankündigt, China einen Wirtschaftsplan für Tibet vorzuschlagen, folgenlos.

Den Reagan-Song hatte Beuys am 19.4.1982 im Auftrag der Grünen aufgenommen und als Single veröffentlicht. Die Musik schrieb Bap-Gitarrist Klaus Heuser. Der Text, der manchmal irrtümlich Beuys zugeschrieben wird, stammt von dem Werbetexter Alain Thomé, auch Drummer Manfred Boecker hat dazu beigetragen.

So entschieden der Refrain auftritt, so diplomatisch umschiffen die Strophen gleich mehrere Klippen. Dem Vorwurf des Antiamerikanismus kommt der Song zuvor, indem er sich auf einer Seite mit dem amerikanischen Volk verortet: „Dieser Reagan kommt als Mann der Rüstungsindustrie / but the people of the States don’t want it – nie!“ Ebensowenig soll er als Anbiederung an die Sowjets missverstanden werden: „Er will die Säcke im Osten reizen / die auch nicht mit Atomen geizen.“

Mit dem Song tritt Beuys einen Monat nach der Friedensdemo sogar in der populärsten Musiksendung der ARD auf. Bei „Bananas“ hüpft er, das Mikrofon schwingend, hinter Band und Schlagzeug auf und ab.

Die Nachrüstung können die Friedensdemos nicht verhindern. Unter Schmidts Nachfolger Helmut Kohl beschließt der Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung von 108 Pershing-2-Raketen und 96 Marschflugkörpern in der Bundesrepublik. Doch bald zeigt sich, dass die Sowjetunion sich mit dem Wettrüsten wirtschaftlich übernommen hat. Am 8. Dezember 1987 vereinbaren Reagan und der sowjetische Staatschef Gorbatschow die Doppel-Null-Lösung – ein Durchbruch! Innerhalb von drei Jahren sollen alle in Europa stationierten amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen verschrottet werden.

Martin Kaluza, Juli 2020

Weiterbildung für Revolutionäre

Carlos Mejía Godoy: „El Garand“ (1979)

„Entre todos los fusiles
Este Garand es la ley
El cañón de su calibre tiene .30-06
Si usted quiere desarmarlo
Siga al pelo esta instrucción
Levante bien las dos cejas
Pare las orejas y oiga esta canción“

Carlos Mejía Godoy: El Garand

Die Gitarren geben einen flotten Dreivierteltakt vor, wie er auf Dorffesten in Mittelamerika sofort zum Tanzen anregt. Eine männliche Stimme variiert dazu geschickt zwischen lang geschmetterten und fröhlich hüpfenden Tönen. Das Liedchen klingt für europäische Ohren ein bisschen nach Buena Vista, ein bisschen nach Mariachi – volkstümlich lateinamerikanisch. Im Text wird erklärt, wie man das Sturmgewehr Garand M-1 auseinandernimmt und wieder zusammenbaut.

Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

„El Garand“ erschien 1979 auf dem Album „Guitarra Armada“ der nicaraguanischen Liedermacher Carlos Mejía und Luis Enrique Godoy. Der Albumtitel ist ein Wortspiel: Er lässt an eine Armada von Gitarren denken, kann aber auch heißen: „die bewaffnete Gitarre“ oder „die zusammengebaute Gitarre“. Veröffentlicht wurde es von der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront FSLN.

Als die „Guitarra Armada“ herauskam, befand sich das Land im Klammergriff des Somoza-Clans, der seit Anastacio Somozas Putsch im Jahr 1937 an der Macht gewesen war. Von den USA protegiert, ließen die Somozas keine Gelegenheit aus, sich zu bereichern. Als Weihnachten 1972 ein Erdbeben die Hauptstadt Managua zerstörte, leitete die Familie im großen Stil internationale Hilfsgelder auf ihre eigenen Konten um. Damit begann ihr Stern zu sinken. Die Sandinistische Nationale Befreiungsfront gewann täglich Unterstützer.

In der zunehmend heißen Phase nahmen die Sandinisten den Truppen der Nationalgarde in Straßenkämpfen immer wieder Gewehre ab. Um die Gewehre nutzen zu können, mussten militärisch unausgebildete Kämpfer geschult werden. Die Hälfte der Bevölkerung Nicaraguas waren damals Analphabeten. Die Musikkassetten der „Guitarra Armada“ erreichte auch diejenigen, die kein Flugblatt hätten lesen können. Das Bildungsziel war klar, der Refrain des Songs „Carabina M-1“ etwa lautete: „Cada mazurquita que aprendas, te digo/ Será un hombre menos para el enemigo“. Das heißt sinngemäß: „Jedes Tänzchen, das du lernst, mein Lieber/ wird den Feind einen seiner Männer kosten“.

Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Die insgesamt elf Titel bieten Einführungen in den Umgang mit Gewehren, Munition und Sprengstoff. Die im ersten Stück besungene „El Garand“ ist das halbautomatische Gasdruckladegewehr Garand M-1, weitere Songs widmen sich der Karabinerversion des M-1 und dem „FAL“, einem Sturmgewehr aus belgischer Produktion, das in Deutschland unter der Bezeichnung G-1 bekannt ist und aufgrund seiner großen Verbreitung als „Kalaschnikow der westlichen Welt“ gilt.

Eingeschoben ein melancholisches Lied, das in Frage-Antwort-Form (ein klassisches Stilmittel, das in der spanischen romance ebenso bekannt war wie in mexikanischen corridas) das Schicksal der Songwriterin Arlen Siu beschreibt, die sich 1970 den Sandinisten angeschlossen hatte und zwei Jahre darauf im Kampf gegen Somozas Truppen gestorben war. Die Hymne der sandinistischen Einigkeit, die ebenfalls aus der Feder Carlos Mejía Godoys stammt, beschließt das Album. „Guitarra Armada“ ist – bei allem revolutionärem Nutzwert – eine Sammlung von Songs auf musikalisch hohem Niveau, abwechslungsreich und stilsicher produziert.

Carlos Mejía Godoy, die meisten Stücke des Albums schrieb, war damals schon lange eine bekannte Stimme. Er war Protagonist der Nueva Canción in Nicaragua gewesen, einer Form des politischen Liedes, das seine Wurzeln in der Folklore hatte und in ganz Lateinamerika verbreitet war. Mercedes Sosa und Pedro Aznar in Argentinien, Victor Jara und Violetta Parra in Chile wandten sich mit ihren Liedern gegen Armut und Unterdrückung. Mit ihnen riefen Musiker von Uruguay bis Guatemala zum Kampf für bessere Lebensbedingungen auf.

Außerdem hatte Mejía Godoy als Radiomoderator seit Ende der 60er Jahre nahezu täglich einen bekannten Song parodiert. Er stand damit auch in einer pikaresken Tradition anspielungsreicher Musik und Poesie. Der um scheinbar unschuldige Figuren aus dem Volk gestrickte schelmische Humor erlaubte es ihm, Missstände anzuprangern oder sich ganz einfach über die Unterdrücker lustig zu machen. Auch die Songs der „Guitarra Armada“ sind so humorvoll, dass man sie sich heute als ausgesprochen unterhaltsames Kuriosum anhören kann.

Im Juli 1979, kurze Zeit nachdem die „Guitarra Armada“ erschienen war, besiegten die Sandinisten Somoza. Sergio Ramírez Mercado, nicaraguanischer Schriftsteller und Menschenrechtler, sagte drei Jahre später: „Ich weiß gar nicht, wie viel die Revolution den Liedern Carlos Mejía Godoys verdankt. Sie erzeugten unter den Leuten ein Gemeinschaftsgefühl. Ihre Themen und Harmonien bezogen sie aus der Tiefe unserer Wurzeln. Sie bereiteten dieses Gemeinschaftsgefühl auf den Kampf vor.“

(Text: Martin Kaluza, Oktober 2016)

Say It Loud! Folge 2: Arbeit & Geld

Ihr beautiful people!

Im vergangenen Jahr haben Jo Ambros und ich eine Bühnenshow gestartet, in der sich alles um Protestsongs, Revolutionslieder, Arbeiter- und überhaupt engagierte Songs dreht – und das in der schönsten Lese- und Auftrittslocation im ganzen Prenzlauer Berg! Jo spielt Gitarre, ich lese Texte aus meinem Blog, wir schauen Videos, quatschen, und gesungen wird möglicherweise auch. 

Am 9.2.23 nehmen wir uns in „Say It Loud!“ den Themenkonplex Arbeit & Geld vor. Wir hören Gewerkschaftslieder, nicken wissend zu Songs über harte Arbeit und schlechte Bezahlung, und wir tanzen die Inflation. Über allem steht wie immer die Frage, wie die Message in den Song kam.

Kommt alle! 
(Bringt Geld mit)

*

joambros.net
daspolitischelied.de

Donnerstag, 9.2.2023 um 20 Uhr

REH, Kopenhagener Str. 17, 10437 Berlin
Eintritt 8 Euro

Ein Lied aus dem spanischen Bürgerkrieg reist nach Südamerika

Rolando Alarcón: El Quinto Regimiento (1968)

„El dieciocho de julio
En el patio de un convento
El pueblo madrileño
Fundó el quinto regimiento“

Trad.: El Quinto Regimiento
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Am 17. Juli 1936 putscht das Militär gegen die Zweite Spanische Republik, der Bürgerkrieg beginnt. Am Tag darauf gründet die kommunistische Partei einen paramilitärischen Verband, 150.000 Mann stark, um Madrid zu verteidigen. Seine Gründung und sein Führungspersonal werden umgehend in einem Song verewigt: „El Quinto Regimiento“ – „Das fünfte Regiment.“

Die Melodie ist zusammengesetzt aus zwei Volksliedern. Die Strophen stammen aus „El Vito“, der Refrain aus „Anda, jaleo“. Auf einer der bekanntesten Aufnahmen von „Anda, jaleo“ ist übrigens der Dichter Federico García Lorca zu hören, 1931 begleitete er die Sängerin La Argentinita am Klavier.

Im September 1939, ein halbes Jahr nach Ende des Bürgerkriegs, legt der französische Frachter „Winnipeg“ mit 2200 spanischen Flüchtlingen an Bord in der chilenischen Hafenstadt Valparaiso an. Der Dichter und Konsul Pablo Neruda hatte die Fahrt des französischen Frachters in Paris organisiert.

Als der chilenische Liedermacher Rolando Alarcón dreißig Jahre später ein ganzes Album über den Spanischen Bürgerkrieg aufnimmt – darunter auch „El Quinto Regimiento“ – sind die Passagiere der „Winnipeg“ und die Lieder, die sie mitbrachten, längst in Südamerika heimisch geworden.

Martin Kaluza, Oktober 2022

Die großen Fragen

Bob Dylan: Blowin‘ in the Wind (1963)

„How many times can a mountain exist
Before it’s washed to the sea?
Yes, ’n‘ how many years can some people exist
Before they’re allowed to be free?“

Bob Dylan: Blowin‘ in the Wind
Externer Link: Wenn Sie auf das Bild klicken, öffnet sich in einem neuen Tab ein youtube-Link mit dem Song

Robert Zimmermann, ein Junge aus dem kargen Norden der USA, geht mit 21 Jahren nach New York und mischt in den Bars und Musikkneipen die Folk-Szene auf. Unter seinem Künstlernamen Bob Dylan spielt er die Songs seines Vorbilds Woody Guthrie. Bald schreibt er eigene Lieder, politisch und engagiert. „The Ballad of Donald White“ oder „The Death of Emmett Till“ sind, ganz der Folk-Tradition folgend, um das Schicksal einer bestimmten Person herum gestrickt.

An einem Abend schreibt er in der Musikkneipe praktisch in einem Rutsch einen neuen Text zur Melodie eines traditionellen Gospels („No More Auction Block“), aber diesmal geht es nicht um eine einzelne Person oder Begebenheit, sondern er zoomt zurück und betrachtet das große Ganze. Und er stellt große Fragen:

Wie oft müssen die Kanonenkugeln noch fliegen, bevor sie für immer abgeschafft sind? Wie lange halten Menschen es aus zu existieren, ohne frei zu sein? Wie oft kann ein Mensch einfach wegsehen? „Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind.“ Die Friedensbewegung singt den Song genauso wie die Bürgerrechtsbewegung. „Blowin‘ in the Wind“ wird zu einem der bekanntesten Protestsongs aller Zeiten.

Martin Kaluza, September 2022