Ana Tijoux: Shock (2011)
„La calle no calla,
Ana Tijoux: Shock
la calle se raya
la calle no calla“
Im Vorspann steht: „Tausende Jugendliche haben ihre Schulen und Universitäten besetzt und mit ihrer Forderung, dass gute Bildung nichts kosten darf, ein ganzes Land aufgeweckt.“ Erst dann setzt die Musik ein, Streicher geben den Takt vor, eine Marschtrommel kommt dazu, schließlich ein Beat, stetig und entschlossen. Darüber tanzt leichtfüßig, aber bestimmt die Stimme der chilenischen Rapperin Ana Tijoux. Das Video zu ihrem Song „Shock“ zeigt Bilder von Besetzungen und Protesten, von Demonstranten und Unterstützern. Es ist Dokumentation und Soundtrack einer politischen Bewegung, die im März 2011 ihren Anfang genommen hatte.

Der Anlass: Bildung ist in Chile teuer. Wer Geld hat, schickt seine Kinder auf eine Privatschule. Studieren kann nur, wer eine Zugangsprüfung besteht, auf die teure Privatkurse vorbereiten. Unis verlangen hohe Studiengebühren – eine eingespielte private Bildungsindustrie. „Die Bildung darf kein Geschäft mehr sein, sondern ein soziales Recht“, sagt ein Student in Tijouxs Musikvideo. Der damalige Präsident Sebastián Piñera hingegen sieht gebührenfreie Bildung als „Attentat auf die Freiheit“.
Ana Tijoux wurde 1977 in Paris geboren, im Exil der Eltern, die vor Pinochets Militärregime geflüchtet waren. Sie wuchs auf mit der Musik von Victor Jarra und Violeta Parra, den großen, tragischen politischen Songwritern Chiles. Aber eben auch mit den Rap-Pionieren Public Enemy. Als ihre Karriere in Schwung kommt, ist Tijoux mitte dreißig. Plötzlich wird sie von Radiohead-Sänger Thom Yorke und Iggy Pop bewundert, für Grammys nominiert. Wer ihr auf facebook folgt, sieht, wie politisch aktiv sie ist: Gerade in diesem Jahr unterstützte Tijoux im Süden des Landes Proteste gegen industrielle Lachsfarmen, deren Dreck die Existenz der Fischer bedroht.
2011 reagiert der Staat mit Wasserwerfern und Schlagstöcken auf die Proteste. Die Solidarität in der Bevölkerung ist groß, Gewerkschaften unterstützen die Studenten. Es geht längst um mehr als das Bildungssystem. Das Land, obwohl eine der stabilsten Demokratien des Kontinents, ist auf Vetternwirtschaft gebaut. Medien, Banken und Land gehören einer handvoll Familien, religiöse Hardliner haben großen Einfluss auf die Politik. „Verfassung aus der Zeit Pinochets / das Recht bestimmt vom Opus Dei / das Buch faschistisch / der Putschist durch einen Gnadenakt der Elite kaschiert.“ In so knappen Worten bringt Tijoux die Machtverhältnisse 21 Jahre nach Pinochets Abdankung auf den Punkt.
Präsident Piñera war als einer der reichsten Männer der Landes ins Amt gekommen, Besitzer eines Fernsehkanals, eines Fußballclubs und Anteilseigner der größten Fluggesellschaft – ein südamerikanischer Berlusconi. Ana Tijoux meint genau ihn, wenn sie singt: „Wir marschieren und singen mit einer Stimme, in der Überzeugung, dass wir oft genug bestohlen wurden! Wir sagen nein zu deinem Kontrollstaat, zu deinem verfaulten Thron aus Gold, zu deiner Politik, zu deinem Reichtum, zu deinen Schätzen!“
Die Proteste haben ihr vordergründiges Ziel nicht erreichen können, Schule und Studium sind in Chile nach wie vor privat und teuer. Doch sie haben vieles bewegt. Sie haben eine Generation politisiert und solidarisiert. Die drängt nun in die Institutionen: 2013 zogen vier Anführer der Studentenproteste – unter anderem die über die Landesgrenzen hinaus bekannte Camila Vallejo – in das chilenische Parlament ein. Kein Wasserwerfer wird sie dort wegspülen.
(Text: Martin Kaluza, Juli 2016)