Freiheit unterm Regenschirm

Beyond: 海阔天空 (Under a Vast Sky) (1993)

„Forgive me for being wild and yearning for freedom
Yet fearing someday I might fall down
To give up one’s dream, it isn’t hard to anyone
Never mind if someday there’s only you and me“

Beyond: Under a Vast Sky

Wong Ka Kui ist Sänger der Band Beyond, er ist ein Star des kantonesischen Pop. Den Ruhm allerdings kann er nicht so recht genießen. In Hongkong, sagt er, gäbe es gar keine Musik-, sondern nur eine Entertainmentindustrie. Von Plattenfirmen und Fernsehsendern fühlt er sich in ein Korsett gezwängt. Wong schreibt sich den Ärger von der Seele: „Verzeiht mir, dass ich wild bin und nach Freiheit giere / Trotz der Angst, dass ich eines Tages tief fallen könnte“. „Under a Vast Sky“ wird sein größter Song.

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1993, als die Band das Lied veröffentlicht, ist Hongkong noch britische Kronkolonie. Im Herbst 2014 erlebt der Song einen zweiten Frühling, er wird von zehntausenden Menschen auf der Straße gesungen. Sie fordern mehr Demokratie. Und sie scharen sich um das Lied des freiheitsliebenden Sängers, das eigentlich für eine ganz andere Gelegenheit geschrieben wurde, wie um ein Lagerfeuer.

Wong Ka Kui erlebt die Proteste nicht mehr. 1993, auf dem Höhepunkt seines Ruhms, fällt er der verhassten Entertainment-Industrie zum Opfer. Bei einem Fernsehauftritt in Tokyo fällt er von der Bühne und stürzt, Kopf voran, drei Meter in die Tiefe. Er verliert sofort das Bewusstsein und erliegt später seinen Verletzungen.

Auch die Wiedereingliederung Hongkongs in den chinesischen Staat bekommt Wong nicht mehr mit. 156 Jahre lang war Hongkong britische Kolonie gewesen und hatte sich vom unbedeutenden Fischerort zur boomenden Wirtschaftsmetropole entwickelt. 1984 schlossen Großbritannien und China einen Vertrag, der die Rückgabe für den 1. Juli 1997 festlegte. Dem Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ folgend sollte die Stadt 50 Jahre lang den Status einer Sonderverwaltungszone mit vielen Autonomierechten bekommen. Für das Jahr 2017 stellte der Vertrag sogar freie Wahlen in Aussicht. Das hatte es nicht einmal unter den Briten gegeben.

Doch je näher das Jahr rückt, desto deutlicher wird Pekings Desinteresse an freien Wahlen. Im August 2014 beschließt der Nationale Volkskongress, dass der Regierungschef Hongkongs aus vier Kandidaten gewählt wird, die Peking zuvor abgesegnet hat. Dagegen regt sich Protest: Ende September bringt die Demokratiebewegung „Occupy Central“ Zehntausende auf die Straßen. Studenten bestreiken ihre Unis und errichten Protestcamps. Über Wochen sind ganze Straßenzüge gesperrt. Der Regenschirm wird zum Symbol der Bewegung. Wegen des schlechten Wetters – und weil die Demonstranten mit ihm das Tränengas der Polizei abwehren.

Nach zweieinhalb Monaten enden die Proteste. Im Dezember 2014 räumt die Polizei die Camps, eines nach dem anderen. Peking ist keinen Millimeter von seinem Standpunkt abgerückt, gibt sich aber milde und will die Anführer nicht bestrafen. Doch das System vergisst nicht: Im August 2017 werden mit Joshua Wong, Nathan Law und Alex Chow drei Anführer der Proteste zu Gefängnisstrafen zwischen sechs und acht Monaten verurteilt. Die Journalistin Mak Ying-Sheung steht vor Gericht, weil sie – im Auftrag eines Nachrichtenmagazins als Berichterstatterin vor Ort – im November 2014 nicht der polizeilichen Aufforderung gefolgt war, die Demonstration zu verlassen.

Mittlerweile haben auch die Wahlen stattgefunden, an denen sich die Proteste entzündet hatten. Am 1. Juli 2017 wurde Carrie Lam zur neuen Stadtvorsteherin gewählt. Abstimmen durften allerdings nur die knapp 1.200 Mitglieder eines Wahlkomitees, die meisten von ihnen Wirtschaftsvertreter und Peking-treue Lokalpolitiker. Vor dem Gebäude sammelte sich eine Gruppe von Demonstranten. Ihre Forderung: Nicht nur 1.200 Privilegierte sollen wählen dürfen – sondern alle Bewohner Hongkongs.

(Text: Martin Kaluza, März 2018)

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