Das Monopol des Deutschseins unterwandern

Advanced Chemistry: „Fremd im eigenen Land“ (1992)

„Ich hoffe, die Radiosender lassen diese Platte spiel’n
Denn ich bin kein Einzelfall, sondern einer von viel’n
Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land
Kein Ausländer und doch ein Fremder“

Advanced Chemistry: „Fremd im eigenen Land“
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„Nach der vierten Krawallnacht rechnet die Polizei mit weiteren rechtsradikalen Ausschreitungen in Rostock. Die Stadt sei inzwischen ein Sammelplatz für Rechtsradikale aus dem ganzen Bundesgebiet geworden, sagte ein Polizeisprecher.“

Mit einem Ausschnitt aus der Tagesschau vom 26. August 1992 über die rechtsextremen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen beginnt der Song „Fremd im eigenen Land“ der Heidelberger Hip-Hop-Band Advanced Chemistry. Der Song war eigentlich schon fertig, doch der Nachrichtenmitschnitt passt perfekt ins Intro: Es geht um ein ernstes Thema.

Die drei Rapper Torch, Linguist und Toni-L rappen drei Strophen lang ausführlich über das, was Kindern aus Einwandererfamilien ständig entgegenschlägt, von herablassenden Sprüchen über Racial Profiling bis hin zu körperlicher Gewalt. Kurzum: Die ganze Palette des Alltagsrassismus. Jede Strophe beginnt mit: „Ich habe einen grünen Pass, mit nem goldenen Adler drauf“ und endet mit „Kein Ausländer – und doch ein Fremder.“

Die Musiker sind in Deutschland geboren, und doch werden sie ständig als „Ausländer“ gelesen. Die Eltern von Torch stammen aus Ostpreußen und Haiti, Toni-L ist italienischer Abstammung, die Familie von Linguist stammt aus Ghana, er ist dort und in Deutschland aufgewachsen. Ständig müssen sie sich erklären, rechtfertigen, fragen lassen, ob sie einmal in ihre Heimat zurück gehen möchten.

1992 kennt das Radiopublikum deutschen Rap nur von den Fantastischen Vier, die es grade mit dem harmlosen Mittelschichts-Ulk „Die da!?!“ in die Hitparaden geschafft haben. „Fremd im eigenen Land“ läuft zwar nicht so häufig im Radio – und doch schlägt der Song ein. MTV spielt ihn europaweit.

„Der Song war wirklich polarisierend“, erinnert sich Torch in einem Interview. „Es ist ja überhaupt kein Radiosong ‒ er hat nicht die richtige Länge, ist nicht nett, da passt gar nichts. Aber den Leuten hat das alles aus der Seele gesprochen.“ Sein Mitmusiker Linguist findet: „Mit seiner Mischung aus politischer Stellungnahme mit unmittelbarem Bezug auf den rassistischen Terror der Zeit und offensiver, wütender persönlicher Erzählung bekam ‚Fremd im eigenen Land‘ eine Anziehungskraft auf junge Leute – Migranten und Eingeborene gleichermaßen – wie wir sie selbst nicht erwartet hatten.“ Vor allem unterwandert der Song selbstbewusst das Monopol der „eingeborenen Deutschen“ zu bestimmen, was denn Deutschsein heißt.

Advanced Chemistry hatte sich 1987 in Heidelberg gegründet. Rund um den Standort des Hauptquartiers der U.S. Army hatte sich eine junge Hip-Hop-Szene zusammengefunden. Durch afroamerikanische GIs und ihre Familienangehörige waren sie mit Hip-Hop in Berührung gekommen und organisierten nun ihre eigenen Jams, Auftritte, auf denen oft spontan und im Stegreif gerappt wurde.

Zu Beginn rappt die Szene noch auf Englisch – viele Afro-Deutsche sprachen das ohnehin auch zu Hause. Deutsch hatte zu sehr den Beigeschmack schmerzhafter Erfahrungen mit Rassismus. „Oft wurde ihre Beherrschung einem sogar ganz abgesprochen“, erinnert sich Linguist. „’Woher kannst du denn so gut deutsch?’“

Doch irgendwann wechselt Torch die Sprache, streut deutsche Ansagen und Reime ein, bringt Freestyles auf Deutsch und gilt seitdem als der Erste, der auf Jams deutsch rappt.

2020 stellt Advanced-Chemistry-Mitglied Torch der Stadt Heidelberg für die Gründung eines Hip-Hop-Archivs 5.000 Stücke aus seiner Sammlung zur Verfügung, darunter Drum-Computer und Texthefte. Im Jahr drauf zeichnet die Stadt Heidelberg ihn mit der Richard-Benz-Medaille aus. 2023 wird die „Hip-Hop-Kultur in Heidelberg und ihre Vernetzung in Deutschland“ in das Bundesweite Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe aufgenommen.

Die Pioniere aus Heidelberg, die im Hip-Hop ein Zuhause fanden, haben ihr Land geprägt.

Martin Kaluza, Januar 2024

Ein Gedanke zu “Das Monopol des Deutschseins unterwandern

  1. Danke für diesen Beitrag.
    An das damalige Geschehen erinnere ich mich.
    Womöglich habe ich den Song damals gehört.
    Freut mich für den und die Musiker, nach 30 Jahren
    eine solche Würdigung zu erfahren.

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