„With such a heavy burden You had to carry all on your own Forgive me son I should have known“
Sade: „Young Lion“
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Es ist schon ein paar Jahre her, da bekam Sade, ein Star der 1980er Jahre, der sich inzwischen weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, von ihrem Gitarristen ein Foto aus New York zugemailt. Jemand hatte über ein Poster der Sängerin den Satz geschrieben: „The bitch sings only when she wants to“ – Die singt nur, wenn sie will. „Was für ein präziser, lustiger Kommentar“, sagte sie dazu. „Er entspricht genau meiner Attitüde.“
2024 findet sie es wieder einmal an der Zeit. Einen einzelnen Song nimmt sie auf, 14 Jahre sind seit ihrem letzten Album vergangen. Das Video zu „Young Lion“ zeigt zu einem langen, melancholischen Klavierintro sonnendurchflutete Familienaufnahmen aus dem Garten und dem Urlaub, ungewöhnlich private Bilder. Die Hauptperson in dem Video ist die gleiche wie im Text: Sades Kind, geboren als Tochter Mickailia, inzwischen zum Mann Izaak herangewachsen.
„Junger Mann, es war so schwer für Dich, Du musst Dich so allein gefühlt haben“, singt Sade, und: „Vergib mir, mein Sohn, ich hätte es wissen sollen.“ Der Song ist eine anrührende, öffentliche Entschuldigung an ihren Trans-Sohn, der 2016 sein Geschlecht hatte angleichen lassen. Hätte sie ihn auf seinem Weg nicht viel besser unterstützen können? Der Text basiert auf einem Brief, den die Mutter ihrem Sohn zu dessen 21. Geburtstag geschrieben hatte.
Den Song schrieb Sade eigens für das Benefiz-Album „Transa“ der Red Hot Organization, die seit 1990 Gesundheitsprojekte mit den Mitteln der Popmusik unterstützt. Die Produzentin Massima Bell hatte Sade einen persönlichen Brief geschrieben, nachdem sie gehört hatte, dass sie einen Transgender-Sohn hat.
46 Songs haben die Produzent*innen zusammengetragen und in acht Kapiteln arrangiert. Die auf „Transa“ vertretenen Künstler*innen sind teils selbst trans, teils nicht-binär, teils cis, die Auswahl ist bewusst breit angelegt.
Die Idee, Trans-Menschen ein Album zu widmen, kam Massima Bell, nachdem die Musikerin Sophie bei einem Unfall gestorben war – eine Größe im Musikbusiness, ebenfalls eine Trans-Frau, die zum Beispiel mit Charlie XCX, St. Vincent und Kim Petras zusammengearbeitet hatte. Eine Hommage sollte das Album sein, eine Zelebration der Trans-Community und ihres Beitrags zur Popkultur. Doch dann begann in den USA ein immer stärkerer Backlash gegen Trans-Rechte. Als das Album erscheint, befindet sich das Land mitten im Präsidentschaftswahlkampf. „Wir hatten das so nicht vorhergesehen, aber jetzt fühlt es sich an, als hätte es zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können,“ sagt Massima Bell.
Dem Rolling Stone erklärt Sades in den USA lebende Sohn Izaak Adu einmal, eine Entschuldigung seiner Mutter wäre überhaupt nicht nötig gewesen. In den sozialen Medien drückt er immer wieder Bewunderung und Dankbarkeit für seine Mutter aus. Und trotzdem ist auch ihm „Young Lion“ eine Herzensangelegenheit. „Ein Song, in dem sich ein Elternteil dafür entschuldigt, sein Kind missverstanden zu haben, kann eine immense Bedeutung für die Trans-Community haben“, sagt er. „Ich hoffe, er bringt Trost und Wertschätzung hervor – und das Gefühl, gesehen und verstanden zu werden.“
„And the Rocket’s red glare, The Bombs bursting in air Gave proof through the night That our flag was still sthere“
Francis Scott Key: „Star Sprangled Banner“
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Die Lage im Vietnamkrieg hat sich zugespitzt. Die groß angelegte Tet-Offensive der Vietcong hat die Stimmung in der US-Öffentlichkeit zum Kippen gebracht. Es wird offensichtlich, dass die USA diesen Stellvertreterkrieg des Kalten Krieges nicht gewinnen können. Sie ziehen bereits Bodentruppen ab, fliegen stattdessen immer mehr Luftangriffe.
Im August 1969 versammeln sich unter dem Motto „3 Days of Peace & Music“ 400.000 Hippies zum Woodstock-Festival. Dutzende Bands spielen, am Sonntagabend soll Jimi Hendrix den Höhepunkt bilden. Sein Auftritt wird auf den Montagmorgen verschoben, 9 Uhr bei grellem Tageslicht. Heftiger Regen am Vortag hat die Wiese in Schlamm verwandelt, gerade mal 35.000 Zuschauer haben ausgeharrt.
In einem Medley aus seinen Songs spielt Hendrix ein paar Melodietöne an, die dem Publikum gleich bekannt vorkommen: Es ist der Anfang des Star Sprangled Banner, der US-amerikanischen Nationalhymne. Hendrix spielt sie als Instrumentalversion, doch der Gesang läuft bei jedem im Kopf mit. Die ersten vier Zeilen interpretiert Hendrix laut, verzerrt, in einer rohen Blues-Version, während der langen Noten stimmt er lässig sein Instrument nach.
Dann kippt die Performance: Hendrix lässt einen Ton lange stehen, erzeugt mit dem Tremolohebel der Gitarre ein Heulen, Rückkopplungen springen zwischen seiner elektrischen Gitarre und den Verstärkerboxen hin und her, und Hendrix tut, was man so noch von keinem Gitarristen gehört hatte: Er lässt hohe, singende Töne in die Tiefe stürzen, sie klingen wie Bomber im Sturzflug. Sirenen und markerschütternde Detonationen lassen alle, die innerlich mitgesungen haben, erschaudern, denn genau jetzt käme die Textzeile: „And the Rocket’s red glare, the Bombs burstin in air…“ („Der rote Schein der Raketen und die Bomben, die in der Luft bersten“). Fast anderthalb Minuten dauert die zerstörerische Sequenz, bevor Hendrix sich wieder der bekannten Melodie annähert: „…gave proof through the night that our Flag is still there.“
Hendrix‘ apokalyptisches Gitarrensolo ist der Wecker, der das verbliebene Publikum aus dem idyllischen Peace&Love-Traum des Festivals reißt und in die politische Realität zurück katapultiert.
Seinen Ursprung hat das Star Sprangled Banner im Unabhängigkeitskrieg. Der Dichter Francis Scott Key hatte den Text in der Erleichterung darüber geschrieben, dass die Flagge der USA nach einem britischen Angriff noch immer auf Fort McHenry wehte. Die Melodie entstammt einem englischen Trinklied. Mit seiner Dekonstruktion nimmt Hendrix der Hymne alles Heroische.
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Schon zuvor hatte es umstrittene Bearbeitungen des Star Sprangled Banner gegeben. 1941 arrangierte der Komponist Igor Strawinsky die Melodie neu, damit die Töne weniger weit auseinander lagen – das sollte auch Ungeübten das Singen erleichtern. Als er seine Fassung 1944 bei einem Konzert in Boston dirigierte, untersagte ihm die Polizei weitere Aufführungen, weil sie darin eine Verunglimpfung der Nationalhymne sah. Als Affront wurde auch eine Folk-Version des puertoricanischen Songwriters José Feliciano im Jahr 1968 gesehen, die eigentlich als Liebeserklärung gedacht war – zu ungewohnt.
Hendrix hatte das Star Sprangled Banner zum Zeitpunkt seines ikonischen Auftritts auf dem Woodstock-Festival schon seit über einem Jahr im Repertoir. Ein Kommentator schrieb über eine frühere Aufführung in Inglewood, sie sei „bedeutungslos“ und stelle „die billigste Art von Sensationsgier“ dar.
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Drei Wochen nach dem Woodstock-Auftritt fragt der leidlich aufgeschlossene und populäre Talkshow-Moderator Dick Cavett Hendrix, was denn da los gewesen sei mit dieser Kontroverse um das Star Sprangled Banner. „Keine Ahnung Mann, ich bin Amerikaner, also hab ich’s gespielt. Wir mussten es immer in der Schule singen, also hab ich’s gespielt.“ Das Publikum versteht die Ironie in Hendrix‘ Understatement. Als Cavett seine Interpretation „unorthodox“ nennt, unterbricht Hendrix ihn freundlich: „I think it was beautiful.“
„Southern trees bear a strange fruit Blood on the leaves and blood on the root Black body swinging in the southern breeze Strange fruit hanging from the poplar trees
Abel Meeropol: Strange Fruit
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Immer, wenn im New Yorker Nachtclub „Café Society“ am Sheridan Square das Ende von Billie Holidays Auftritts naht, hören die Kellner auf, die Tische zu bedienen. Das Licht wird ausgeschaltet, bis auf einen einzelnen Spot auf die Sängerin. Holiday schließt die Augen, wie im Gebet versunken.
Der Song, zu dem sie anhebt, beschwört eine ländliche Südstaatenidylle, in der die grausamsten Verbrechen stattfinden. Sie singt von den seltsamen Früchten, die in den Pappeln hängen. Über die Blätter rinnt Blut auf die Wurzeln, in der Brise des Südens schwingen schwarze Körper, an denen Krähen picken. Sie braucht das Wort „Lynchmorde“ gar nicht zu erwähnen.
Holiday besingt im Jahr 1939 ein Tabuthema. Fast 4.000 Menschen wurden in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts gelyncht. 90 Prozent dieser Morde fanden in den Südstaaten statt, vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner.
Der Ort, an dem sie den Ort singt, versteht sich als explizit politisch. Der Betreiber Barney Josephson setzt sich über die Rassengesetze hinweg und erlaubt Schwarzen genauso Zutritt wie Weißen – anders etwa als im berühmten Cotton Club, wo Schwarze zwar auftreten, aber nicht im Publikum zugelassen sind.
Ihren bekanntesten Song hat ein Weißer geschrieben, der jüdische Lehrer Abel Meeropol, auch bekannt unter dem Pseudonym Lewis Allan und Mitglied der kommunistischen Partei. 1936 war er auf ein Bild des Fotografen Lawrence Beitler gestoßen, das die Lynchmorde an den schwarzen Teenagern Thomas Shipp und Abram Smith zeigte. Verstört von dem Foto schrieb Meeropol das Gedicht „Bitter Fruit“ und veröffentlichte es im Magazin der New Yorker Lehrergewerkschaft. Später komponierte er auch die Melodie, führte den Song im Madison Square Garden auf und bot ihn über den Betreiber des „Café Society“ Billie Holiday an.
Songwriter Abel Meeropol steht in der McCarthy-Ära noch einmal in der Öffentlichkeit: Mit seiner Frau Anne adoptiert er 1953 die Kinder des auf dem elektrischen Stuhl hingerichteten Ehepaars Ethel und Julius Rosenberg, das beschuldigt worden war, für das sowjetische Atomprogramm zu spionieren.
Billie Holiday singt „Strange Fruit“ jeden Abend. Gerne hätte sie den Song bei Columbia Records aufgenommen, doch ihre Plattenfirma lehnt ihn ab – zu heikel. Schließlich nimmt sie ihn beim Label Commodore auf, zusammen mit drei weiteren Songs. Die Band ist ihr achtköpfiges Orchester aus dem Nachtclub. Produzent und Labelbetreiber Milt Gabler sagt später, er glaube, das sei die erste wirklich moderne Blues-Session gewesen.
Vor allem gilt „Strange Fruit“ als der erste Song der Bürgerrechtsbewegung. Nach seinem Erscheinen erreicht er Platz 16 der US-amerikanischen Pop-Hitparade. Noch im Jahr der Veröffentlichung schreibt die New York Post: „Wenn die Wut der Ausgebeuteten im Süden jemals groß genug wird, hat sie jetzt ihre Marseillaise.“ Sechzig Jahre später kürt das Time-Magazine die Originalaufnahme von „Strange Fruit“ zum Song des Jahrhunderts.
Der Vergleich zur Marseillaise hinkt ein bisschen. Zwar ist sie eine Art Prototyp des Protestsongs, für schwungvolle, beherzte Lieder, die schlechte Arbeitsbedingungen und Unterdrückung anprangern und zum Mitmarschieren aufrufen.
„Strange Fruit“ hingegen ist in seiner Ruhe aufwühlend, der Song packt die Menschen emotional. Der Musikkritiker Dorian Lynsek drückt es so aus: Bis dahin waren Protestsongs Propaganda. „Strange Fruit“ war der Beweis, dass sie Kunst sein konnten.
Der Gitarrist Jo Ambros hat mit Dieter Fischer und Johann Polzer ein drittes Album mit Instrumentalversionen von Protestsongs veröffentlicht. Für „Trotz alledem“ hat er sich deutsche Lieder vorgenommen, die vom Bauernkrieg handeln oder in der 1848er-Zeit entstanden sind, und dazu gibt es noch einen Degenhardt. Ich habe wieder die Begleittexte zu den Songs geschrieben. Hier sind zwei Videos mit Songs aus dem Album und als Bonus „Die Gedanken sind frei“.
Zündschnüre-Song
Text und Musik: Franz-Josef Degenhardt
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»Und als von tausend Jahren / nur elf vergangen waren / im letzten Jahr vom Krieg, // da lag die Welt in Scherben, / und Deutschland lag im Sterben / und schrie noch Heil und Sieg.«
1944, irgendwo im Ruhrgebiet, es ist kaum noch zu übersehen, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Zwischen abgestellten Zügen, Schrebergärten und Kaninchenställen leben Fänä und seine Freunde. Dreizehn, vierzehn Jahre sind sie alt, wachsen ohne Väter auf, denn die sind entweder im Krieg, gefallen oder im KZ ermordet worden. Sie selbst sind noch zu jung für die Flak. Immerhin müssen sie nicht zur Schule. Die ist zerbombt.
Franz Josef Degenhardt kennt man vor allem als Liedermacher, sein Song Spiel nicht mit den Schmuddelkindern fehlt in keiner Folk-Liedersammlung. 1973 veröffentlicht Degenhardt, der zudem als linker Rechtsanwalt arbeitet, seinen ersten Roman, Zündschnüre.
Jedes Kapitel ist einem anderen Kind gewidmet, das sich irgendwie durchschlagen und eine Haltung entwickeln muss. Fänä und seine Kumpanen (und eine Kumpanin) stehlen einen Eisenbahnwaggon mit 600 Litern Wein, transportieren Sprengstoff, überbringen Nachrichten, schmuggeln verfolgte Menschen aus der Stadt, brechen in einen Lagerraum der Wehrmacht ein und erbeuten dort kartonweise Kondome — nichts Essbares. »Ein Buch, das man mit der gleichen Spannung und dem gleichen Vergnügen liest wie Mark Twains Geschichten von Huck Finn und Tom Sawyer«, schrieb damals die ZEIT.
Die Jugendlichen, die gar nichts anderes kennen als den Krieg, entwickeln eine Art solidarischer Resilienz. Und sie stehen für eine Hoffnung, dass diejenigen, die lange scheinbar vergeblich gekämpft haben, doch ihre Spuren hinterlassen. Den menschlichen Blick und die Hoffnung hat Degenhardt, der wie seine Protagonisten im Ruhrgebiet aufwuchs, in den Zündschnüre-Song fließen lassen: »Und wie sie kämpften, litten / und lachten, liebten, stritten / in Solidarität, // das wird man dann noch lesen, / wenn das, was sonst gewesen, / ein Mensch nicht mehr versteht.«
Badisches Wiegenlied
Text: Ludwig Pfau (1849), Musik: Unbekannt
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»Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort draußen geht der Preuß! / Deinen Vater hat er umgebracht, / deine Mutter hat er arm gemacht, / und wer nicht schläft in guter Ruh, / dem drückt der Preuß die Augen zu. / Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort draußen geht der Preuß!«
Welches Kind soll bei solchen Gedanken bitte schlafen? Immer wieder wurde der Text des Badischen Wiegenliedes zur Melodie von Schlaf, Kindlein, schlaf gesungen, so wie auch das heute noch viel bekanntere »Maikäfer, flieg! / Der Vater ist im Krieg. / Die Mutter ist in Pommerland, / Pommerland ist abgebrannt.«
Während beim Maikäferlied nicht abschließend geklärt ist, wann genau es entstand — ob eher im Dreißigjährigen Krieg oder vielleicht im Siebenjährigen — lässt sich das Badische Wiegenlied sicher zuordnen. Es ist ein Abgesang auf die gescheiterte Revolution von 1848/49. In Baden hatten, wie in vielen Regionen Deutschlands, die Bürger begonnen, sich gegen Adel und Fürstenherrschaft aufzulehnen. Eine badische Republik sollte entstehen, mit dem Volk als Souverän.
Eine Strophe des Liedes erwähnt auch die Festung Rastatt, wo der badische Teil der Festungsgarnison gemeutert und sich der Bürgerwehr angeschlossen hatte. Die reaktionären Nachbarstaaten schlugen den Aufstand nieder, unter der Führung Preußens: »Der Preuß hat eine blutige Hand, / die streckt er übers badische Land.«
Neben der Schlaflied-Melodie von 1605 ist für das Badische Wiegenlied auch eine eigene Melodie überliefert, die allerdings eine Zeit lang in Vergessenheit geraten war. In den 1960er-Jahren entdeckt die Folk-Bewegung den Text für sich. Die Metapher des Schlafens passt in die Zeit, diesmal gemünzt auf politischen Stillstand in der Adenauerzeit — die 1968er-Studentenrevolte braut sich bereits zusammen. Das Duo Ulli und Fredrik schreibt eine neue Melodie, ebenso wie Dieter Süverkrüp oder Matthias Kießling von der Band Wacholder.
In der historischen Vertonung wechselt das Badische Wiegenlied für die letzte Strophe vom düsteren G-Moll aufs optimistische G-Dur. Ein Stimmungswechsel, denn das Lied wagt einen optimistischen Blick in die Zukunft! Der Preuße geht nun nicht mehr in Baden umher, sondern er liegt — und zwar da, wo er den Vater schon hingebracht hat: unter der Erde. »Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort draußen geht der Preuß! / Gott aber weiß, wie lang er geht, / bis dass die Freiheit aufersteht, / und wo dein Vater liegt, mein Schatz, / da hat noch mancher Preuße Platz!« Die allerletzte Zeile schließlich hat nun auch gar nichts mehr mit Einschlafen zu tun — sondern mit einem neuen Erwachen: »Schrei’s, mein Kindlein, schrei’s: / dort draußen liegt der Preuß!«
Die Gedanken sind frei
Text: Hoffmann von Fallersleben, Musik: Trad.
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Sophie Scholl spielte es 1942 ihrem wegen hitlerkritischer Äußerungen verhaftetem Vater an der Gefängnismauer stehend vor. Die Dresdner Staatskapelle führte es mitten während der friedlichen Revolution 1989 auf dem Theaterplatz auf. Der Songwriter Leonard Cohen sang es auf seiner ersten Deutschland-Tournee. Aber es wurde auch von der Man-darf-das-ja-nicht-mehr-sagen-Fraktion gekapert: Ab 2020 war es immer wieder auch auf Demos von Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen und aus dem Kreis von Corona-Leugnern zu hören. Auch eine Reihe von Rechtsrock-Bands nahmen den Song auf.
Die Rede ist von einem Song, den jeder kennt: Die Gedanken sind frei. Eine alte philosophische Idee, prägnant auf den Punkt gebracht.
Die heute bekannte Fassung des Liedes – es gab Vorläufer – geht auf eine Bearbeitung des Germanisten und Dichters August Heinrich Hofmann von Fallersleben aus dem Jahr 1842 zurück. Er hatte ein Händchen für eingängige Lieder. Aus seiner Feder stammen auch die Texte zu Alle Vögel sind schon da, Der Kuckuck und der Esel, Ein Männlein steht im Walde, Morgen kommt der Weihnachtsmann und – natürlich – das Lied der Deutschen.
In seiner fröhlichen Eingängigkeit strahlt das Lied einen unbekümmerten Freiheitsdrang aus. In den Gedanken geht alles – wer sie nicht ausspricht, ist vor Sanktionen sicher. „Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen.“ Und selbst wenn es großen Ärger geben würde, täte man sie aussprechen: „Man kann ja im Herzen stets lachen und scherzen und denken dabei: die Gedanken sind frei.“
„Wenn Deutschland mich wieder ansieht Und sagt, mein Herz hat keinen Platz hier Wenn die Wolken übers Land ziehen Mein Nachbar keine Menschen, sondern nur sein Land liebt“
Apsilon: „Koffer“
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Eine Taxifahrt durch das nächtliche Berlin. Im Radio laufen Nachrichten. Es ist 1993, bei einem rechtsextremen Anschlag in Solingen sind fünf Menschen türkischer Herkunft ums Leben gekommen. Der deutsche Fahrgast, konfrontiert mit der Gewalt gegen Menschen mit ausländischen Wurzeln, fordert: „Mach das aus! Ich will das nicht hören.“ Der Fahrer, selbst türkischer Herkunft, ist entsetzt: „Wie reden Sie? Da sind Menschen gestorben!“ Sls er den Gast bittet, sein Taxi zu verlassen, kommt es zum Streit. Am Ende ist der Fahrer tot.
Der Berliner Rapper Apsilon singt dazu: „Wenn die Blicke auf uns fallen/So wie Fäuste aus Metall/Wenn meine Brüder, eine Schwestern fallen wie tote Blätter/Schwarzrot-goldne Blätter“. Die Musik dazu ist sparsam arrangiert: Über einem melancholischen Klavier schweben düstere Streicher, dazu tänzelt, zunächst zögerlich, ein Saxofon. Erst im letzten Viertel nimmt der Song ein wenig Fahrt auf.
Gewidmet ist das Video dem Taxifahrer Bekir G., der in Berlin in den 1990er Jahren von einem Fahrgast erschossen wurde. Am Ende wird ein Zeitungsbericht von damals eingeblendet. Im Video bleibt unerwähnt, was Apsilon jedoch in Interviews offenbart: Bekir G. war sein Großonkel. Apsilon war damals ein Jahr alt.
Apsilon ist aufgewachsen in Berlin-Moabit. Seine Großeltern kamen als Arbeiter im Rahmen des Anwerbeabkommens aus der Türkei nach Deutschland. „Ich habe viel mit meinen Großeltern gesprochen. Darüber, was sie nach Deutschland gebracht hat und was sie hier erlebt haben. Zum Beispiel Rassismus und Ausbeutung, aber auch Hoffnung“, erzählt Apsilon einmal. „Diese Erfahrungen sind auch für nachfolgende Generationen identitätsstiftend, ob man will oder nicht.“
Aus dieser persönlichen Auseinandersetzung hat der Rapper bereits zuvor Songs gemacht: „Köfte“ zum Beispiel ist eine wütende Geschichtsstunde in Rap-Form: „Opa für drei Groschen am Tag malochert/Jeden Monat bis zur Ohnmacht für den Tagelohn/Kohlenstaub geschluckt für euren Nachkriegswohlstand (…) Und bei der Arbeit und beim Amt immer lachen“. Die Songs auf dem jüngsten Album „Haut wie Pelz“ hingegen sind persönlicher, verletzlicher.
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Der Dialog zwischen dem Taxifahrer und seinem Mörder im Video zu „Koffer“ ist fiktional. Niemand weiß, was in Wirklichkeit auf der Fahrt gesprochen wurde. Für den Song ist er wichtig: In knappen Worten zeigt er die soziale Kälte, die Gleichgültigkeit gegenüber der Gewalt an Menschen mit migrantischer Geschichte.
Das Video hat eine zweite Erzählebene. Apsilon sitzt in einem Bus. Es ist Nacht, kalte Lichtkegel streifen durch den Fahrgastraum. Außer Apsilon sitzen, schweigend, nur wenige junge Männer im Bus, ebenfalls ausländischer Herkunft.
„Deutschland, ja du kannst uns abschieben“, singt Apsilon und legt in knappsten Worten die Sündenbockargumentation bloß: „Deine Rentner sammeln trotzdem Pfandflaschen aus den Tonnen“. In Interviews ordnet Apsilon seine Songs in den größeren, politischen Zusammenhang ein. Vor der vorgezogenen Bundestagswahl 2025 sagt er: „Der ganze Wahlkampf dreht sich nur darum, dass sich die Parteien darin überbieten, wie sehr sie abschieben wollen.“
„It’s not called an Indian victory But a bloody massacre And the General, he don’t ride well anymore There might have been more enthusing If us Indians had been loosing But the General, he don’t ride well anymore
Johnny Cash: „Custer“
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Ein „Massaker an unseren Truppen“ vermeldet die New York Times am 6. Juli 1876: „General Custer und siebzehn Offiziere in Schlacht am Little Horn hingemetzelt – Angriff auf überwältigend großes Camp von Wilden – 315 Tote und 31 Verwundete.“
Wenige Tage zuvor hatte General George Armstrong Custer die 7. Kavallerie im Kampf gegen die Sioux in den Untergang geführt. Die Zahl der Gegner, angeführt von den Häuptlingen Sitting Bull und Spotted Elk, Two Moons, Gall und Crazy Horse, hatte Custer trotz Vorwarnungen komplett unterschätzt.
Die militärisch wenig bedeutende Schlacht, unter Lakota und Cheyenne als Schlacht von Greasy Grass bekannt, wird schnell zum US-amerikanischen Mythos. General Custer gilt als Held.
Johnny Cash sieht das anders. Knapp neunzig Jahre nach der Schlacht verspottet er Custer in einer flotten Countrynummer, leichtfüßig und mit scharfer Ironie: „To some he was a hero / But to me his score was zero“: „Für einige war er ein Held, von mir bekommt er null Punkte“. Custer habe Frauen, Hunde und Kinder getötet, während die Männer auf der Jagd waren – das waren seine „Siege“.
Custers fatalen strategischen Fehler, das Regiment aufzuteilen, um von drei Seiten aus angreifen zu können, kommentiert Cash: „Custer split his men / Well he won’t do that again“. Vers um Vers demontiert er den General, jeder Zweizeiler endet lapidar: „The General, he don’t ride well anymore“ – „Der General sitzt nicht mehr gut im Sattel“.
Johnny Cash ist ist mit seinem Hit „Ring of Fire“ frisch zum Star aufgestiegen. Im Greenwich Village in New York lernt er die elektrisierende Folk-Szene kennen, freundet sich mit Bob Dylan an. Die Stimmung ist politisch. Man schreibt „Topical Songs“, Lieder, die bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten zum Gegenstand haben.
Joan Baez, Bob Dylan und Harry Belafonte engagieren sich für die Bürgerrechtsbewegung, stehen beim Marsch auf Washington neben Martin Luther King auf der Bühne. Cash beschließt, ebenfalls einer unterdrückten Gruppe eine Stimme zu geben. Den amerikanischen Ureinwohnern fühlt er sich besonders nah, schließlich fließt in seinen Adern – so glaubt er damals noch – auch das Blut der Cherokee. Cash ist in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen. Dabei hat er erlebt, dass die indianischen Nachbarn noch schlechter behandelt wurden als seine eigene Familie.
Cash lernt den Sänger Peter La Farge kennen und ist gleich von einem seiner Protestsongs begeistert: „Tha Ballad of Ira Hayes“ erzählt die tragische Geschichte eines indianischen Weltkriegshelden. Das Thema liegt in der Familie: Der Songwriter ist Sohn des Anthropologen und Harvard-Absolventen Oliver La Farge, der 1930 mit „Indianische Liebesgeschichte“ den Pulitzer-Preis gewonnen hatte, einem Roman, in dem indigene US-Bewohner respektvoll und menschlich dargestellt werden.
Cash beschließt, ein Konzeptalbum aufzunehmen, das je zur Hälfte aus eigenen Songs und denen von La Farge besteht: Auf „Bitter Tears: Ballads of the American Indian“ singt Cash zum hittauglichen Country-Sound, der ihn berühmt gemacht hat, über das Massaker von Wounded Knee, er beklagt Zwangsadoptionen und den vertragswidrigen Bau eines Staudamms auf dem Land der Seneca.
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Das von La Farge geschriebene „Custer“ ordnet die Schlacht von Little Bighorn neu ein: Nicht ein Massaker an Custers Truppe war sie, sondern ein Sieg der Indianer. Cash stellt sich selbst auf ihre Seite, spricht als einer von ihnen: „There might have been more enthusing / If us Indians had been loosing“.
Einige Country-Sender weigern sich, Songs vom Album „Bitter Tears“ zu spielen. Das Billboard Magazine veröffentlicht nur eine kleine Notiz und keine ausführliche Plattenkritik, die bei einem solchen Star selbstverständlich wäre. In einem offenen Brief, den er als Anzeige veröffentlicht, antwortet Cash dem Magazin und Radio-DJs: „Habt Ihr denn gar keine Courage?“
Mit dem Album „Bitter Tears“ ist Johnny Cash ein Vorreiter, der den Indigenen in der breiten Öffentlichkeit Gehör verschafft. Fünf Jahre später erscheinen zwei einflussreiche Bücher, Dee Browns „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses“, eine Geschichte der Indianerkriege auf dem Gebiet der USA, und „Custer starb für eure Sünden“, der Essay-Band des indianischen Politikwissenschaftlers und Aktivisten Vine Deloria junior.
Johnny Cashs Engagement hallt bis heute in der indigenen Community nach. Am 25. Juni 1966, zwei Jahre nach Veröffentlichung des Albums, wird Johnny Cash in einer öffentlichen Zeremonie vor 1.500 Menschen vom Seneca-Turtle-Stamm adoptiert. Er bekommt den Stammesnamen „Hago’ata“ verliehen: Geschichtenerzähler.
„And there won’t be snow in Africa this Christmas time The greatest gift they’ll get this year is life (Ooooh) Where nothing ever grows, no rain or river flows Do they know it’s Christmas time at all?“
Band Aid: „Do They Know It’s Christmas“
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Am Bob Geldof, der Sänger der Boomtown Rats, sieht eine BBC-Doku über die Hungersnot im Norden Äthiopiens. Eine heftige Dürre hat das Land ausgetrocknet, die Militärregierung trägt nichts dazu bei, den acht Millionen Betroffenen zu helfen, im Gegenteil, sie steckt alles Geld in den Kampf um die inzwischen unabhängige Region Eritrea.
Der Reporter Michael Buerk berichtet aus einem Flüchtlingslager in der nordäthiopischen Stadt Korem und spricht von einer Hungersnot „biblischen Ausmaßes“. Bis zu einer Million Menschen verhungern, es ist schwer zu schätzen. Die Bilder der BBC gehen um die Welt.
Geldof will etwas gegen den Hunger unternehmen: Er schreibt einen Song mit Midge Ure, dem Sänger von Ultravox, und trommelt dutzende Stars zusammen, um ihn einzusingen: U2, Bananarama, Duran Duran, Spandau Ballet, Status Quo, Sting, Boy George und Paul Young.
In der ersten Strophe beschwören Paul Young und Boy George den Geist einer friedlichen Weihnacht in unserer Welt des Überflusses. George Michael und Simon LeBon bringen eine neue Perspektive ins Spiel: „But say a prayer / Pray for the other ones“.
Noch bevor im Refrain die Dürre in Afrika erwähnt wird, singt Bono die etwas unglücklichen Zeilen: „Well, tonight thank God it’s them instead of you“ – „Heute trifft es Gott sei Dank sie, nicht dich“. Die musikalische Klimax ist mit der rhetorischen Frage erreicht: Wissen sie überhaupt, dass Weihnachten ist?
Die Beteiligten verzichteten auf ihre Gagen. Geldof telefoniert Kaufhausketten und Plattenhändler ab, um sicherzustellen, dass auch sie auf ihren Anteil verzichten. Allein Margret Thatcher kann er nicht überzeugen, die Erlöse von der Umsatzsteuer zu befreien.
„Do They Know It’s Christmas“ springt in UK direkt auf Platz 1, es wird der erfolgreichste britische Song der 1980er Jahre. Harry Belafonte ist so beeindruckt von dem Benefiz-Song, dass er mit Michael Jackson, Lionel Ritchie und vielen anderen US-Stars im Folgejahr ebenfalls einen aufnimmt: „We Are the World“.
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Damit ist es nicht zu Ende: Am 13. Juli 1985 findet mit „Live Aid“, ebenfalls von Geldof und Ure organisiert, parallel in London und Philadelphia das größte Rockkonzert der Welt statt. In Radio und Fernsehen hören weltweit 1,5 Milliarden Menschen zu, auch hier fließen die Erlöse in die Hungerhilfe.
Zu den Jubiläen 1989 und 2004 und 2014 erscheinen neue Fassungen von „Do They Know It’s Christmas“. Zum 40. Jubiläum erscheint 2024 ein Remix aus den vorigen Fassungen. In einem Interview zum 35-jährigen Erscheinen schätzt Geldof, dass über die Jahre 200 Millionen Pfund an Einnahmen zusammengekommen seien. Doch der Song zieht auch Kontroversen nach sich. Der erste Vorwurf trifft die Stars bereits damals: Sie machten das doch nur, um sich im Gespräch zu halten und ihre eigenen Plattenverkäufe zu verbessern.
Ein BBC-Korrespondent meldet aus Äthiopien: Natürlich wissen die Menschen dort, dass Weihnachten ist. Die Hungersnot treffe vor allem die christlich-orthodoxe Region Tigray.
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Mit den Jahren wird ein anderer Vorwurf immer lauter: Afrika werde in dem Song stereotyp als Ort des Hungers und des Schreckens dargestellt, die Perspektive sei letztlich eine koloniale. Die Hungersnot betraf den Norden Äthiopiens, doch im Song wird das Land gar nicht genannt. Die Rede ist nur von: Afrika.
„Ich bin für zwei der schlimmsten Songs in der Geschichte verantwortlich“, sagt Bob Geldof einmal über „Do They Know It’s Christmas“ und „We Are The World“. Er brauche nur im Supermarkt an die Fleischtheke zu gehen, und da werden sie unweigerlich gespielt: „Every fucking Christmas.“
„Freiheit, Freiheit, Freiheit Sie beginnt in unseren Herzen Freiheit, Freiheit, Freiheit Sie macht uns keine Angst“
Soolking: „Liberté“
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Am 10. Februar 2019 verkündet Algeriens greiser Präsident Abdelasis Bouteflika, dass er bei den im April stattfindenden Wahlen erneut antreten werde. Da hat er schon zwanzig Jahre als Staatschef hinter sich, und in der letzten Zeit ist sich die Öffentlichkeit gar nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch in der Lage ist, Regierungsgeschäfte zu führen. Nach mehreren Schlaganfällen saß der 82-Jährige im Rollstuhl und konnte kaum noch sprechen. Zuletzt hatte man ihn drei Jahre lang nicht im Fernsehen gesehen.
In vier Amtszeiten hat Bouteflika Milliarden an Staatsgeldern außer Landes geschafft. Die Ankündigung seiner erneuten Kandidatur löst Massenproteste aus, die größten seit dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren. Die Menschen demonstrieren in Algier und anderen großen Städten, immer Freitags.
Ein melancholisch-souliger Song mit Akustikgitarre, reduziertem Stolper-Beat und ordentlich Autotune-Effekt auf dem Gesang begleitet die Demonstrationen. Das Lied im Stil des algerischen Raï wird an Straßenecken und auf Plätzen gespielt. „Es scheint, dass die Macht käuflich ist“, singt Soolking, einer der größten Popstars Algeriens auf Französisch. Die Macht, „le pouvoir“, damit sind die mächtigen Greise gemeint, die die Geschicke des Landes bestimmen. Weiter singt er: „Wenn ich sage, dass ich mit dir glücklich bin, lüge ich.“
Auf den Demos geht es um mehr als Bouteflikas Kandidatur. Die Proteste, in Algerien unter dem Namen „Hirak“ („Bewegung“) bekannt, richten sich friedlich gegen die Machtelite und fordern mehr Demokratie. Die Bilder von jungen Leuten, die Blumen an Polizisten verteilen, gehen um die Welt. Bis zu einer Million Menschen versammeln sich an manchen Tagen. „Gib mir meine Freiheit zurück, ich bitte dich freundlich“, singt Soolking in „Liberté“.
Der Ursprung des Songs liegt in der Fußball-Fanszene. „Das Original stammt von Ouled El Bahdja, einer Gruppe, die im Stadion Musik macht“, erklärt Soolking dem Guardian. „Ich habe den Text geschrieben, die Musik mit ihnen ein bisschen bearbeitet, und dann wurde es mehr als ein Stadionsong. Jetzt ist es ein internationaler Song.“ Mit inzwischen über 380 Millionen Klicks allein auf Youtube ist „Liberté“ einer der meistgestreamten Songs des Landes.
Algerische Fußballfans gelten seit jeher als musikalisch, unabhängig und kreativ. Besonders die Gruppe Ouled El Bahdja, Fans des Hauptstadt-Clubs USMA, schreibt lieber eigene Songs als bekannte Hits umzutexten. Ein lockerer Kreis von rund zwanzig Mitgliedern trifft sich regelmäßig, um zu komponieren und Textideen zu besprechen. Sie nehmen sogar Songs im Studio auf. Ein erstes Album, das 2013 erscheint, wird gleich zum Hit.
Die USMA-Fankurve ist seit Jahrzehnten politisch. Während des Unabhängigkeitskriegs von 1954 bis 1962 starben dutzende Widerstandskämpfer aus dem Umfeld des Clubs. 1988 nahmen Kundgebungen gegen die Einparteienherrschaft in den Hochburgen der USMA-Fans ihren Anfang. Und während des Bürgerkriegs, der zwischen 1991 und 2002 rund 150.000 Menschen das Leben kostete und mit einem Sieg der Regierungstruppen endete, wurden mehrere Anhänger des Clubs wegen ihrer politischen Lieder verhaftet. „In den Neunzigerjahren“, berichtet die algerische Journalistin Lynda Abbou, „wurden in den Stadien Lieder improvisiert, die nach und nach politisch immer engagierter wurden.“
In der letzten Strophe des Soolking-Songs sind die Gesänge der Ouled El Bahdja-Fans zu hören, auf Arabisch fordern sie die Freilassung von Inhaftierten.
Tage vor Ablauf seiner Amtszeit erklärt Bouteflika seinen Rücktritt, doch die Proteste gegen „le pouvoir“ gehen noch über Monate weiter. Als im März 2020 auch in Algerien Corona-Schutzmaßnahmen verhängt werden, bitten prominente Unterstützer der Proteste, die Großdemonstrationen einzustellen.
Maurice Conrad & Bruneau: „CSD in Sonneberg“ (2023)
„Es ist CSD in Sonneberg Und die AfD empört Überall ist Party Weil den Landrat unsre Party stört“
Maurice Conrad & Bruneau: „CSD in Sonneberg“
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25. Juni 2023, die Stimmen der Kommunalwahl im Landkreis Sonneberg sind ausgezählt: Robert Sesselmann, der Kandidat der AfD, hat die Stichwahl gegen den amtierenden CDU-Landrat Jürgen Köpper, der von einer Parteienkoalition unterstützt wurde, mit 52,8% gewonnen. Damit steht fest: Die AfD erringt zum ersten Mal ein kommunales Spitzenamt.
Der neue Landrat gilt als Anhänger des rechtsextremen Landesparteichefs Bernd Höcke und bedient das ganze rechtspopulistische Vokabular von „Altparteien“ bis „Systemmedien“. Seine Stimmen hat Sesselmann mit den Slogans „Grenzen schließen“, „Frauen vor dem Islam schützen“ und „Gegen Windräder – für Diesel“ geholt. Seine Wahl ist ein Schock, Medien berichten weit über die Landesgrenzen hinaus.
Der Mainzer Kommunalpolitiker und Aktivist Maurice Conrad überlegt sich, was eine angemessene Antwort wäre. Wie könnte man der AfD und ihrer Wählerschaft möglichst plakativ zeigen, dass man ihr das Feld nicht überlässt? Ganz klar: Es bräuchte einen CSD in Sonneberg!
Conrad, Jahrgang 2000, steht für praktisch alle Werte, die die AfD ablehnt. Er setzt er sich für Klimaschutz und Seenotrettung ein und macht sich für LGBTQ*-Anliegen stark. Als Gründungsmitglied der Klimaliste Rheinland-Pfalz sitzt er seit 2019 im Mainzer Stadtrat. Früher war er Mitglied der Piraten, inzwischen ist er bei den Grünen und zur grünen Fraktion gewechselt.
Conrad tut sich mit dem Musiker Bruneau zusammen. Sie produzieren einen Song, in dem sie sich einen CSD in der Thüringer Kleinstadt herbeiwünschen. „AfD tut es weh, wenn du Glitzer im Gesicht hast“ rappt Bruneau, und Conrad über den neuen Landrat: „Doch er ist frustriert, denn er hat nicht in der Hand / Wie wir aussehen, wen wir lieben, wie wir uns kleiden.“ Die Kernbotschaft lautet: „Straight oder Queer oder Ally, egal / Hauptsache wir zeigen, wir sind noch da.“
Conrad und Bruneau fahren nach Sonneberg, um vor Ort das Video zu dem Song zu drehen – Conrad im bauchfreien Top und Shorts, alle Beteiligten geschminkt, die Pride Flag immer dabei. Sie überkleben demonstrativ die Toilettentüren am Rathaus mit genderneutralen Symbolen. Und dann läuft tatsächlich Landrat Robert Sesselmann mit seiner Aktentasche durchs Bild, während Conrad im Hintergrund rappt.
Eine einschüchternde Atmosphäre liegt während des Videodrehs über der Stadt. „Bruneau und ich konnten wieder abfahren, zurück nach Köln und Mainz“, schreibt Conrad in seiner Taz-Kolumne „Änder studies“. „Aber was ist mit den Menschen vor Ort? Mit denen, die sich gar nicht erst trauen, auf dem Rathausplatz ihrer Heimatstadt in einem Musikvideo mitzuwirken, weil sie Angst haben, ihre Beteiligung könnte für sie zum Problem werden?“
Einer der ersten Kommentare zu dem Video stammt von User 777MelB: „Hey guyys, ich feiere euch!!!! Ich komme aus Südthüringen, habe viele Jahre in Sonneberg gelebt und habe da immer noch Familie. In der Zeit damals habe ich einige heimlich (!) Schwule und Lesben kennengelernt! Ein echter CSD, wenn auch nur mit 10 Teilnehmern, wäre echt der burner!!“
Ein Jahr später wird der Wunsch Wirklichkeit: Aus der Thüringer Kleinstadt heraus organisiert, mit Unterstützung der Community aus dem 25 Kilometer entfernten Coburg, findet am 20. Juli 2024 erstmals ein CSD in Sonneberg statt.
Walter Andreas Schwarz: „Im Wartesaal zum großen Glück“ (1956)
„Und man baute am Kai der Vergangenheit Einen Saal mit Blick auf das Meer Und mit Wänden aus Träumen gegen die Wirklichkeit Denn die liebte man nicht sehr“
Walter Andreas Schwarz: „Im Wartesaal zum großen Glück“
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Am 24. Mai 1956 findet im Kursaal von Lugano erstmals der Grandprix Eurovision de la Chanson statt, der Vorläufer des heutigen ESC. Jedes der damals sieben Teilnehmerländer schickt zwei Lieder ins Rennen. Der neue Wettbewerb soll das Fernsehen populärer machen, bislang haben nur sehr wenige Haushalte einen eigenen Apparat.
Für Deutschland startet der damals unbekannte Freddy Quinn mit dem flott swingenden „So geht das jede Nacht“. Doch zuvor trägt der noch unbekanntere Walter Andreas Schwarz das düstere Chanson „Im Wartesaal zum großen Glück“ vor. Ein wehmütiges Akkordeon suggeriert Seefahrerromantik. Arrangement und Sprechgesang erinnern an die Theatermusik von Brecht und Weill.
Der Wartesaal, um den geht, steht am Kai der Vergangenheit und bietet einen Blick auf ein Meer, auf dem kein Schiff kommt. Oder hat gerade eines abgelegt? Die Leute, die dort sitzen, warten auf das große Glück. „Die armen, armen Leute“, singt Schwarz.
Das Mitleid ist ironisch gemeint, denn die Wartenden haben es nicht anders verdient. Die Wände des Saals sind aus Träumen gemacht, „gegen die Wirklichkeit, denn die liebte man nicht sehr.“ Darum geht es also: Die Wartenden wollen die Vergangenheit nicht sehen. Im Deutschland der 1950er versteht das Publikum unmittelbar, dass die Verbrechen der Nazizeit gemeint sind.
Eine ambivalente Erlöserfigur taucht auf und kommt „mit gläserner Fracht von den Sternen.“ Er erleuchtet aber nicht die Wartenden, sondern die Fischer draußen auf dem Meer. Eine Figur wie bei Kafka, schwer zu fassen.
Die Jury befindet: Der Schweizer Beitrag „Refrain“ von Lys Assia gewinnt. Für die anderen Songs wird gar keine Rangfolge bekanntgegeben, die Stimmzettel werden vernichtet. Es halten sich Gerüchte, Schwarz hätte den 2. Platz belegt – das kann aber auch daran liegen, dass alle Titel, die nicht gewonnen haben, als 2. Platz aufgeführt werden.
Walter Andreas Schwarz ist jüdischer Abstammung, 1938 war er mit seiner Familie in das Konzentrationslager Holzen in Niedersachsen verschleppt worden. Seine Eltern werden ermordet, Schwarz überlebt, weil er den Lagerkommandanten aus der Schule kennt.
Für Schwarz bleibt der Song ein seltener Ausflug in musikalische Gefilde. Schwarz ist Radioautor und Sprecher – einer der profiliertesten. Nach dem Krieg hat er einige Jahre in England verbracht und für die deutschsprachige Sparte der BBC gearbeitet, bevor er nach Deutschland zurückkehrte.
Bis zu seinem Tod 1992 spricht Schwarz 200 Hörspiele ein und produziert Hörbücher. Er schreibt Radiofassungen von Cervantes‘ „Don Quijote“, Heinrich Manns „Untertan“ und Lion Feuchtwangers „Jud Süß“. Er ist für die deutsche Fassung von „Per Anhalter durch die Galaxis“ verantwortlich. Daneben tritt er als Kabarettist auf.
1966, rund zehn Jahre nach seinem Grandprix-Auftritt, beschäftigt ihn die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen erneut. Für WDR und HR produziert Schwarz eine Radiosendung unter dem Titel „Wiedergutmachung“, in der er, leicht fiktionalisiert, auch über seine eigenen Erfahrungen mit der schmerzhaft trägen und oft widersprüchlichen Entschädigungs-Bürokratie der Bundesrepublik spricht.
Die autobiographisch geprägte Figur George Kansky, wie Schwarz NS-Opfer und zwischenzeitlich nach England emigriert, hat auch achtzehn Jahre nach dem Krieg noch nicht das Recht bekommen, dass sie „zu finden hoffte“. Und gerade hat die Bundesregierung beschlossen, einen Teil der Zahlungen um weitere zwei Jahre aufzuschieben, um Haushalt und Währung nicht zu schaden. Stattdessen hat man ihm eine Abschlagszahlung aus einem Vergleich angeboten, um den Fall abschließen zu können. „Wie ist es möglich, dass die Wiedergutmachung so lange dauert?“ Kansky/Schwarz akzeptiert den Vergleich, kauft sich von dem Geld ein Auto – und zieht damit Neid auf sich.
Während noch viele der 3 Millionen Geschädigten des NS-Regimes auf materielle Wiedergutmachung warten müssen, geht es mit der Bearbeitung der Versorgungsansprüche der „Parteibuchbeamten“ viel schneller voran – also von Beamten, die in der NS-Zeit Mitglied der NSDAP waren.
„Wieso sitzen solche Leute heute noch immer als Beamte in den Ämtern?“
Kansky erfährt, dass der Hauptschuldige an der Verschleppung der holländischen Juden, der auch für den Tod von Anne Frank verantwortlich war, als Beamter mit größerer Verantwortung in der bayrischen Finanzverhaltung arbeitete – bis er kürzlich verhaftet wurde. „Wieso sitzen solche Leute heute noch immer als Beamte in den Ämtern?“
Debatten und Hängepartien um die materielle Entschädigung verstellen Kanskys Ansicht nach den Blick auf die noch tiefer greifende Frage nach der moralischen Wiedergutmachung. Die Frage will er erst beantworten, wenn sich nach ein paar Jahren die Debatten um die materielle Wiedergutmachung gelegt haben, „wenn nicht mehr jemand halb gelangweilt, halb verdrossen sagt: ‚Wir zahlen ja.‘ (…) Wenn die Stacheldrahtzäune menschlicher Unzulänglichkeit fallen, hinter denen eine Vergangenheit gefangen gehalten wird, die den Menschen von heute und morgen ihre redliche Unbefangenheit und ihre Freude am Leben streitig macht; den Unschuldigen von heute und den Verfolgten von gestern.“
Walter Andreas Schwarz‘ Song über den Wartesaal wird noch hin und wieder im Fernsehen ausgestrahlt, gerät allmählich in Vergessenheit. Eine bemerkenswerte Wiedergeburt erfährt er rund sechzig Jahre nach dem ersten Grandprix in Lugano. Der Liedermacher Hannes Wader erinnert sich an den Song, spielt ihn auf Konzerten und veröffentlicht 2015 eine Aufnahme auf dem Album „Live“. Und – ganz aktuell – in diesem Jahr findet sich der Wartesaal auf dem Stoppok-Album „Teufelsküche“, im Duett mit Alin Coen gesungen.
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