Bauernkrieg, 1848er, Degenhardt

Der Gitarrist Jo Ambros hat mit Dieter Fischer und Johann Polzer ein drittes Album mit Instrumentalversionen von Protestsongs veröffentlicht. Für „Trotz alledem“ hat er sich deutsche Lieder vorgenommen, die vom Bauernkrieg handeln oder in der 1848er-Zeit entstanden sind, und dazu gibt es noch einen Degenhardt. Ich habe wieder die Begleittexte zu den Songs geschrieben. Hier sind zwei Videos mit Songs aus dem Album und als Bonus „Die Gedanken sind frei“.

Zündschnüre-Song

Text und Musik: Franz-Josef Degenhardt

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»Und als von tausend Jahren / nur elf vergangen waren / im letzten Jahr vom Krieg, // da lag die Welt in Scherben, / und Deutschland lag im Sterben / und schrie noch Heil und Sieg.«

1944, irgendwo im Ruhrgebiet, es ist kaum noch zu übersehen, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Zwischen abgestellten Zügen, Schrebergärten und Kaninchenställen leben Fänä und seine Freunde. Dreizehn, vierzehn Jahre sind sie alt, wachsen ohne Väter auf, denn die sind entweder im Krieg, gefallen oder im KZ ermordet worden. Sie selbst sind noch zu jung für die Flak. Immerhin müssen sie nicht zur Schule. Die ist zerbombt.

Franz Josef Degenhardt kennt man vor allem als Liedermacher, sein Song Spiel nicht mit den Schmuddelkindern fehlt in keiner Folk-Liedersammlung. 1973 veröffentlicht Degenhardt, der zudem als linker Rechtsanwalt arbeitet, seinen ersten Roman, Zündschnüre.

Jedes Kapitel ist einem anderen Kind gewidmet, das sich irgendwie durchschlagen und eine Haltung entwickeln muss. Fänä und seine Kumpanen (und eine Kumpanin) stehlen einen Eisenbahnwaggon mit 600 Litern Wein, transportieren Sprengstoff, überbringen Nachrichten, schmuggeln verfolgte Menschen aus der Stadt, brechen in einen Lagerraum der Wehrmacht ein und erbeuten dort kartonweise Kondome — nichts Essbares. »Ein Buch, das man mit der gleichen Spannung und dem gleichen Vergnügen liest wie Mark Twains Geschichten von Huck Finn und Tom Sawyer«, schrieb damals die ZEIT.

Die Jugendlichen, die gar nichts anderes kennen als den Krieg, entwickeln eine Art solidarischer Resilienz. Und sie stehen für eine Hoffnung, dass diejenigen, die lange scheinbar vergeblich gekämpft haben, doch ihre Spuren hinterlassen. Den menschlichen Blick und die Hoffnung hat Degenhardt, der wie seine Protagonisten im Ruhrgebiet aufwuchs, in den Zündschnüre-Song fließen lassen: »Und wie sie kämpften, litten / und lachten, liebten, stritten / in Solidarität, // das wird man dann noch lesen, / wenn das, was sonst gewesen, / ein Mensch nicht mehr versteht.«

Badisches Wiegenlied

Text: Ludwig Pfau (1849), Musik: Unbekannt

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»Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort draußen geht der Preuß! / Deinen Vater hat er umgebracht, / deine Mutter hat er arm gemacht, / und wer nicht schläft in guter Ruh, / dem drückt der Preuß die Augen zu. / Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort draußen geht der Preuß!«

Welches Kind soll bei solchen Gedanken bitte schlafen? Immer wieder wurde der Text des Badischen Wiegenliedes zur Melodie von Schlaf, Kindlein, schlaf gesungen, so wie auch das heute noch viel bekanntere »Maikäfer, flieg! / Der Vater ist im Krieg. / Die Mutter ist in Pommerland, / Pommerland ist abgebrannt.«

Während beim Maikäferlied nicht abschließend geklärt ist, wann genau es entstand — ob eher im Dreißigjährigen Krieg oder vielleicht im Siebenjährigen — lässt sich das Badische Wiegenlied sicher zuordnen. Es ist ein Abgesang auf die gescheiterte Revolution von 1848/49. In Baden hatten, wie in vielen Regionen Deutschlands, die Bürger begonnen, sich gegen Adel und Fürstenherrschaft aufzulehnen. Eine badische Republik sollte entstehen, mit dem Volk als Souverän.

Eine Strophe des Liedes erwähnt auch die Festung Rastatt, wo der badische Teil der Festungsgarnison gemeutert und sich der Bürgerwehr angeschlossen hatte. Die reaktionären Nachbarstaaten schlugen den Aufstand nieder, unter der Führung Preußens: »Der Preuß hat eine blutige Hand, / die streckt er übers badische Land.«

Neben der Schlaflied-Melodie von 1605 ist für das Badische Wiegenlied auch eine eigene Melodie überliefert, die allerdings eine Zeit lang in Vergessenheit geraten war. In den 1960er-Jahren entdeckt die Folk-Bewegung den Text für sich. Die Metapher des Schlafens passt in die Zeit, diesmal gemünzt auf politischen Stillstand in der Adenauerzeit — die 1968er-Studentenrevolte braut sich bereits zusammen. Das Duo Ulli und Fredrik schreibt eine neue Melodie, ebenso wie Dieter Süverkrüp oder Matthias Kießling von der Band Wacholder.

In der historischen Vertonung wechselt das Badische Wiegenlied für die letzte Strophe vom düsteren G-Moll aufs optimistische G-Dur. Ein Stimmungswechsel, denn das Lied wagt einen optimistischen Blick in die Zukunft! Der Preuße geht nun nicht mehr in Baden umher, sondern er liegt — und zwar da, wo er den Vater schon hingebracht hat: unter der Erde. »Schlaf, mein Kind, schlaf leis, / dort draußen geht der Preuß! / Gott aber weiß, wie lang er geht, / bis dass die Freiheit aufersteht, / und wo dein Vater liegt, mein Schatz, / da hat noch mancher Preuße Platz!« Die allerletzte Zeile schließlich hat nun auch gar nichts mehr mit Einschlafen zu tun — sondern mit einem neuen Erwachen: »Schrei’s, mein Kindlein, schrei’s: / dort draußen liegt der Preuß!«

Die Gedanken sind frei

Text: Hoffmann von Fallersleben, Musik: Trad.

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Sophie Scholl spielte es 1942 ihrem wegen hitlerkritischer Äußerungen verhaftetem Vater an der Gefängnismauer stehend vor. Die Dresdner Staatskapelle führte es mitten während der friedlichen Revolution 1989 auf dem Theaterplatz auf. Der Songwriter Leonard Cohen sang es auf seiner ersten Deutschland-Tournee. Aber es wurde auch von der Man-darf-das-ja-nicht-mehr-sagen-Fraktion gekapert: Ab 2020 war es immer wieder auch auf Demos von Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen und aus dem Kreis von Corona-Leugnern zu hören. Auch eine Reihe von Rechtsrock-Bands nahmen den Song auf.

Die Rede ist von einem Song, den jeder kennt: Die Gedanken sind frei. Eine alte philosophische Idee, prägnant auf den Punkt gebracht.

Die heute bekannte Fassung des Liedes – es gab Vorläufer – geht auf eine Bearbeitung des Germanisten und Dichters August Heinrich Hofmann von Fallersleben aus dem Jahr 1842 zurück. Er hatte ein Händchen für eingängige Lieder. Aus seiner Feder stammen auch die Texte zu Alle Vögel sind schon da, Der Kuckuck und der Esel, Ein Männlein steht im Walde, Morgen kommt der Weihnachtsmann und – natürlich – das Lied der Deutschen.

In seiner fröhlichen Eingängigkeit strahlt das Lied einen unbekümmerten Freiheitsdrang aus. In den Gedanken geht alles – wer sie nicht ausspricht, ist vor Sanktionen sicher. „Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen.“ Und selbst wenn es großen Ärger geben würde, täte man sie aussprechen: „Man kann ja im Herzen stets lachen und scherzen und denken dabei: die Gedanken sind frei.“

Zum Album: joambros.net

Drei Streik-Klassiker

„Wo ist das Politische Lied, wo sind die Protestsongs, wo ist die Revolution in der Musik?“ fragt sich Gitarrist Jo Ambros im Jahr 2020. „Was ist die gesellschaftliche Funktion von Musik, was ist meine gesellschaftliche Aufgabe als Musiker? Bin ich nur Schmuck, Unterhaltung, trage zur Kontemplation bei? Oder muss ich mich als öffentliche Person äußern, positionieren, in Stellung bringen?“

Die Fragen nimmt Jo zum Anlass, eine Reihe alter Songs neu zu interpretieren. Er spielt die „Internationale“ als Reggae, „We Shall Overcome“ als Rockungetüm, das Streiklied „Bread and Roses“ als schwebende Ballade. Sein Trick ist, die Songs instrumental zu spielen. So führt er uns vor, dass gute Protestlieder die Zeit nicht nur wegen ihrer Texte und wegen ihres Anliegens überdauern – sondern dass in den besten auch eine großartige Melodie steckt.

Zu seiner CD „Bread and Roses“ habe ich – wir kennen uns schon lange – die Linernotes geschrieben. Hier sind drei Liveversionen von Songs aus dem Album, aufgenommen im Deutschen Bauernkriegsmuseum in Böblingen. „Die Internationale“, „Bread and Roses“ und „We Shall Overcome“ haben einen verwandten Ursprung. Alle drei sind aus der Arbeiterbewegung heraus entstanden, als Gewerkschafts- und Streiklieder (auf dem Album sind auch andere Themen vertreten).

Die Internationale:

T Eugène Pottier
M Pierre Degeyter

Mitte Juni 1888 setzt sich Pierre Degeyter mit seinem Akkordeon hin, um einen Text zu vertonen. Ein Arbeiterlied soll es werden, und der Autor Eugène Pottier hatte ganz offensichtlich die Marseillaise im Kopf gehabt, als er den Text schrieb, denn die Versmaße gleichen sich auffällig. Bestellt ist ein Stück mit „lebendigem und mitreißendem Rhythmus“. Von einem Gewerkschafterchor wird es bei einer Versammlung der Zeitungsverkäufer in Lille am 23. Juli uraufgeführt. Die Erstauflage der Partitur erscheint in 6.000 heimlich gedruckten Exemplaren. Titel: „Die Internationale“.
1896 wird das Lied zur offiziellen Hymne der Revolutionäre, drei Jahre später schließen sich alle sozialistischen Organisationen Frankreichs an. 1910 erklärt der Internationale Kongress von Kopenhagen es zum Lied aller Arbeiter, und 1919 erklärt Lenin die „Internationale“ zur Nationalhymne der Sowjetunion. 1928, vierzig Jahre nach seiner Entstehung, dirigiert Pierre Degeyter persönlich den Chor auf dem VI. Kongress der Kommunistischen Internationale in Moskau, mit Tränen in den Augen.

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We Shall Overcome:

Anfang des 20. Jahrhunderts singen amerikanische Bergarbeiter während eines Streiks „We Will Overcome“. 1945 singen ihn Tabakarbeiterinnen in South Carolina, ebenfalls als Streiklied. Seit 1959 schließlich steht „We Shall Overcome“ vor allem für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die, angeführt von Martin Luther King, friedlich für die Aufhebung der gesetzlich festgeschriebenen „Rassentrennung“ kämpft. Pete Seeger und Joan Baez machen den Song in der Popmusik bekannt.
Aber wer hat das Lied geschrieben? Meist wird die Hymne „I’ll Overcome Someday“ des Methodistenpredigers und Gospelkomponisten Charles Albert Tindley als Vorbild genannt. 2012 legte Musikproduzent Isaias Gamboa nahe, der Protestsong gehe auf die Hymne „If My Jesus Wills“ von Louise Shropshire zurück, die später mit Martin Luther King befreundet war. Sicher ist: Einer der bekanntesten Protestsongs überhaupt hat seinen Ursprung im Gospel – und er hat sich, bevor die ganze Welt ihn kennen lernte, mehrfach gewandelt.

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Bread and Roses:

T James Oppenheim 
M Caroline Kohlsaat

„Die Arbeiterin braucht Brot, aber sie braucht auch Rosen!“ 1911 bringt die Frauenrechtlerin und Gewerkschafterin Rose Schneiderman in einer Streikrede auf den Punkt, woran es Textilarbeiterinnen in New York mangelte: Brot – das steht für gerechten Lohn, erträgliche Arbeitszeiten und Sicherheit am Arbeitsplatz. Und Rosen – damit ist ein menschenwürdiges Leben außerhalb der Betriebe gemeint. Solidarität in den Gewerkschaften müssen sich die meist frisch eingewanderten Arbeiterinnen, die zum Teil wenig Englisch sprechen und als Lohndrückerinnen abgestempelt werden, erst erkämpfen.
1912 steht Schneidermans Zitat auf den Bannern des Streiks von 20.000 Textilarbeiterinnen in Lawrence (Massachusetts), der als „Bread and Roses Strike“ in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingeht. James Oppenheim schreibt um den Slogan herum ein Gedicht, 1917 komponiert Caroline Kohlsaat die Musik. Manchmal wird Martha Coleman als Komponistin genannt – möglicherweise ist das dieselbe Person. Nach dem 2. Weltkrieg vertonen erst Mimi Fariña (Joan Baez‘ Schwester) und später Folksänger John Denver den Song erneut. Das Lied steht für zwei politische Bewegungen: Es wird in der Frauen- und in der internationalen Gewerkschaftsbewegung gesungen.

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Mehr dazu: joambros.de/revolutionslieder/