Dekonstruktion einer Hymne

Jimi Hendrix: „Star Sprangled Banner“ (1969)

„And the Rocket’s red glare,
The Bombs bursting in air
Gave proof through the night
That our flag was still sthere“

Francis Scott Key: „Star Sprangled Banner“
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Die Lage im Vietnamkrieg hat sich zugespitzt. Die groß angelegte Tet-Offensive der Vietcong hat die Stimmung in der US-Öffentlichkeit zum Kippen gebracht. Es wird offensichtlich, dass die USA diesen Stellvertreterkrieg des Kalten Krieges nicht gewinnen können. Sie ziehen bereits Bodentruppen ab, fliegen stattdessen immer mehr Luftangriffe.

Im August 1969 versammeln sich unter dem Motto „3 Days of Peace & Music“ 400.000 Hippies zum Woodstock-Festival. Dutzende Bands spielen, am Sonntagabend soll Jimi Hendrix den Höhepunkt bilden. Sein Auftritt wird auf den Montagmorgen verschoben, 9 Uhr bei grellem Tageslicht. Heftiger Regen am Vortag hat die Wiese in Schlamm verwandelt, gerade mal 35.000 Zuschauer haben ausgeharrt.

In einem Medley aus seinen Songs spielt Hendrix ein paar Melodietöne an, die dem Publikum gleich bekannt vorkommen: Es ist der Anfang des Star Sprangled Banner, der US-amerikanischen Nationalhymne. Hendrix spielt sie als Instrumentalversion, doch der Gesang läuft bei jedem im Kopf mit. Die ersten vier Zeilen interpretiert Hendrix laut, verzerrt, in einer rohen Blues-Version, während der langen Noten stimmt er lässig sein Instrument nach.

Dann kippt die Performance: Hendrix lässt einen Ton lange stehen, erzeugt mit dem Tremolohebel der Gitarre ein Heulen, Rückkopplungen springen zwischen seiner elektrischen Gitarre und den Verstärkerboxen hin und her, und Hendrix tut, was man so noch von keinem Gitarristen gehört hatte: Er lässt hohe, singende Töne in die Tiefe stürzen, sie klingen wie Bomber im Sturzflug. Sirenen und markerschütternde Detonationen lassen alle, die innerlich mitgesungen haben, erschaudern, denn genau jetzt käme die Textzeile: „And the Rocket’s red glare, the Bombs burstin in air…“ („Der rote Schein der Raketen und die Bomben, die in der Luft bersten“). Fast anderthalb Minuten dauert die zerstörerische Sequenz, bevor Hendrix sich wieder der bekannten Melodie annähert: „…gave proof through the night that our Flag is still there.“

Hendrix‘ apokalyptisches Gitarrensolo ist der Wecker, der das verbliebene Publikum aus dem idyllischen Peace&Love-Traum des Festivals reißt und in die politische Realität zurück katapultiert.

Seinen Ursprung hat das Star Sprangled Banner im Unabhängigkeitskrieg. Der Dichter Francis Scott Key hatte den Text in der Erleichterung darüber geschrieben, dass die Flagge der USA nach einem britischen Angriff noch immer auf Fort McHenry wehte. Die Melodie entstammt einem englischen Trinklied. Mit seiner Dekonstruktion nimmt Hendrix der Hymne alles Heroische.

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Schon zuvor hatte es umstrittene Bearbeitungen des Star Sprangled Banner gegeben. 1941 arrangierte der Komponist Igor Strawinsky die Melodie neu, damit die Töne weniger weit auseinander lagen – das sollte auch Ungeübten das Singen erleichtern. Als er seine Fassung 1944 bei einem Konzert in Boston dirigierte, untersagte ihm die Polizei weitere Aufführungen, weil sie darin eine Verunglimpfung der Nationalhymne sah. Als Affront wurde auch eine Folk-Version des puertoricanischen Songwriters José Feliciano im Jahr 1968 gesehen, die eigentlich als Liebeserklärung gedacht war – zu ungewohnt.

Hendrix hatte das Star Sprangled Banner zum Zeitpunkt seines ikonischen Auftritts auf dem Woodstock-Festival schon seit über einem Jahr im Repertoir. Ein Kommentator schrieb über eine frühere Aufführung in Inglewood, sie sei „bedeutungslos“ und stelle „die billigste Art von Sensationsgier“ dar.

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Drei Wochen nach dem Woodstock-Auftritt fragt der leidlich aufgeschlossene und populäre Talkshow-Moderator Dick Cavett Hendrix, was denn da los gewesen sei mit dieser Kontroverse um das Star Sprangled Banner. „Keine Ahnung Mann, ich bin Amerikaner, also hab ich’s gespielt. Wir mussten es immer in der Schule singen, also hab ich’s gespielt.“ Das Publikum versteht die Ironie in Hendrix‘ Understatement. Als Cavett seine Interpretation „unorthodox“ nennt, unterbricht Hendrix ihn freundlich: „I think it was beautiful.“

Martin Kaluza, September 2025

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