Beth Gibbons, Krzysztof Penderecki – Henryk Górecki: „3. Sinfonie – Symfonia pieśni żałosnych“ (2019)
„Nein, Mutter, weine nicht
Henryk Górecki: „3. Sinfonie – Symfonia pieśni żałosnych“
Reinste Königin des Himmels
Beschütze mich immer
Ave Maria“

Beth Gibbons sitzt vor den Violinen, gekrümmt, so wie eine klassische Sopranistin nie sitzen würde. Aus einfachen Melodielinien weben die Streicher eine hypnotische, albtraumhaft spannende Begleitung, die nur selten den Akkord wechselt. Zum Singen beugt sich Gibbons mit runden Schultern zum Mikrofon vor: „Mamo, nie płacz, nie. Niebios Przeczysta Królowo“ – „Nein, Mutter, weine nicht! Reinste Königin des Himmels.“
Der Text ist das Gebet einer jungen Gefangenen. Der polnische Komponist Henryk Górecki hat die Zeilen bei einem Besuch im ehemaligen Hauptquartier der Gestapo in Zakopane abgeschrieben, wo sie in eine Kellerwand geritzt waren. Darunter die Signatur: „Helena Wanda Błażusiak, 18 Jahre, inhaftiert seit dem 25. September 44“.
Beth Gibbons ist bekannt als Sängerin der britischen Trip-hop-Band Portishead. Für die Aufführung von Góreckis 3. Sinfonie in Warschau hat sie den polnischen Text gelernt und mit einem Coach an der Aussprache gefeilt. Dirigent ist Krzysztof Penderecki, ein Avantgarde-Komponist, dessen Musik auch in den Soundtracks von Shining und Der Exorzist zu hören ist.
Górecki komponiert die Sinfonie 1976 als Auftragsarbeit für den Südwestfunk Baden-Baden. Er ist bekannt für avantgardistische, dissonante Kompositionen. Mit der 3. Sinfonie schlägt er einen neuen Weg ein. Rhythmischer wird seine Musik, auch minimalistischer und kontemplativer. Górecki öffnet sie für Einflüsse aus der Volksmusik. Das zeigt sich auch im Libretto: Den Text des ersten Satzes entnimmt er einem Klagelied aus dem 15. Jahrhundert. Den dritten Satz bildet ein Volkslied aus Schlesien, in dem eine Mutter nach ihrem Sohn sucht, der in Aufständen getötet wurde. Beide Sätze haben die Trauer von Müttern zum Thema, sie Rahmen das Gebet der Gefangenen aus Zakopane ein.

Góreckis 3. Sinfonie trifft bei der Kritik auf wenig Zuspruch. Der Komponist Pierre Boulez soll während der Premiere laut „Merde!“ gerufen haben. Ist Góreckis Komposition zu simpel gestrickt? Unter Musikern gilt sie grade wegen ihres Minimalismus, des langsamen Tempos und der sich über lange Zeiträume aufbauenden Dynamik als anspruchsvoll zu spielendes Stück.
Die Sinfonie ist schon fast vergessen, als Robert Hurwitz, der Chef der US-Plattenfirma Nonesuch, sie auf einem Festival in Polen hört. Er gibt, fünfzehn Jahre nach ihrer Uraufführung, eine Neuaufnahme mit dem Dirigenten David Zinman und der Sopranistin Dawn Upshaw in Auftrag. Hurwitz erinnert sich: „Nach den Aufnahmen dachte ich: Das war noch besser als erwartet. Das wird ein Erfolg – vielleicht verkaufen wir 25.000 Stück!“ Die Verkäufe übertreffen die optimistische Prognose um das 40-Fache, es werden über eine Millionen Exemplare. Góreckis 3. Sinfonie steht elf Wochen lang in den britischen Pop-Charts zwischen Alben von Paul McCartney und REM, im Februar 1993 erreicht sie Platz 6. Mehrfach wird sie als Filmmusik eingesetzt.
Górecki fremdelt mit dem Erfolg, einerseits. Andererseits ist er gerührt von den Reaktionen, die ihm zeigen, dass er ein völlig neues Publikum erreicht und berührt. In einem Radiointerview liest er den Brief eines schwedischen Mädchens vor, das bei einem Brand seine Mutter verlor, selbst nur knapp überlebte und aus der Trauersinfonie neue Kraft schöpfte.
Eine Coda. 2020, zehn Jahre nach Góreckis Tod, hat das katholische Nachrichtenmagazin Gość Niedzielny die Tochter von Helena Błażusiak ausfindig gemacht. Lange hatte man angenommen, dass die junge Gefangene die Haft in Zakopane nicht überlebt hatte. Nun erfährt die Journalistin, dass sie überlebte, fünf Kinder hatte und Jahrzehnte lang nicht über die Zeit ihrer Gefangenschaft sprach. Sie verwischte ihre Spuren regelrecht, indem sie ihren ersten Vornamen ablegte.
Błażusiak war Mitglied der polnischen Heimatarmee (AK), die während der Zeit des Zweiten Weltkriegs gegen die Deutschen Besatzer Widerstand leistete. Im Juli 1944 schloss sie sich der Aktion Burza an und wurde später von der Gestapo festgenommen, vermutlich nach einem Verrat. Die AK fiel nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ungnade, weil sie inoffiziell weiter kämpfte – diesmal gegen das kommunistische Regime.
Erst in den letzten Lebensjahren erzählt Helena Błażusiak ihrem Schwiegersohn von der Haft. Ein Detail: Die Zeilen, die der Komponist Górecki in Zakopane von der Wand abschreibt und die Beth Gibbons so eindrücklich singt, hatte Helena mit einem Zahn in die Wand geritzt, den ein Gestapo-Offizier ihr ausgeschlagen hatte.
Helena Wanda Błażusiak-Pawlik starb am 25. Juli 1999.
Martin Kaluza, November 2023